Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte. Marie von Ebner-Eschenbach

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Название Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte
Автор произведения Marie von Ebner-Eschenbach
Жанр Зарубежная классика
Серия
Издательство Зарубежная классика
Год выпуска 0
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die stehende Frage erfolgte die stehende Antwort:

      „Ich weiß es noch nicht genau.“

      „Entschließen Sie sich! Sie sind ja ohnehin nur ein halber Jude.“

      „Ich würde vermutlich auch nur ein halber Christ sein.“

      „Oho! das ist etwas andres!“ entgegnete der Beamte streng. „Wir sprechen noch davon; jetzt sagen Sie mir –“ seine Miene blieb unverändert, aber seine kleinen klugen Augen blickten den Doktor durchdringend an: „Ist er oben, der Sendbote? Haben Sie ihn gesehen?“

      „Welchen Sendboten?“

      „Hier im Hause wird er als Herr von Roswadowski vorgestellt.“

      Auf dem Gesichte Rosenzweigs malte sich ein so aufrichtiges Erstaunen, daß der Beamte ausrief:

      „Sie sind nicht eingeweiht! – Nun, ich will Ihnen Ihre politische Unschuld nicht rauben … Ganz scharmant, diese Konspiranten! besonders die Damen. Übrigens haben wir uns weniger in acht vor ihnen zu nehmen, als sie sich selbst vor – andern. Es ballt sich ein Gewitter über ihren Häuptern zusammen, von dessen Aufsteigen sie keine Ahnung haben. Diese harmlosen Unzufriedenen, die sich für bedrohlich halten, sind selbst von ganz anders Unzufriedenen, in ganz anders gefährlicher Weise bedroht.“

      Rosenzweig konnte eine Erklärung dieser Worte nicht mehr erbitten. Auf der Höhe der Treppe erschien soeben die Hausfrau, strahlend vor Freundlichkeit, und der Kreishauptmann schwebte ihr in zierlichen Schritten eiligst entgegen.

      III

      Rosenzweig ließ seinem Kutscher den Befehl erteilen, anzuspannen und ihm auf der Straße nachzufahren. Er selbst ging zu Fuße voraus und schlug bald einen schmalen Weg ein, der, die Felder quer durchschneidend, in der Nähe eines steinernen Kreuzes in die Landstraße ausmündete. Dort wollte er seinen Wagen erwarten.

      Er sehnte sich danach, tüchtig auszuschreiten, frische, freie Luft zu atmen und den gesunden Erdgeruch einzuziehen, der aus den aufgerissenen Schollen emporstieg. Nur Wunder nahm es ihn, daß er die Wonne und Wohltat, der parfümierten Salonluft und Gesellschaft entronnen zu sein, nicht so recht zu empfinden vermochte.

      Ein tiefinnerliches Unbehagen erfüllte ihn; ein unbestimmtes Etwas ging ihm nach, von dem er sich keine andre Rechenschaft zu geben wußte, als daß es sehr quälend sei.

      Plötzlich rief er mehrmals hintereinander laut aus: „Narr! Narr!“

      Die Apostrophe galt dem, den der Kreishauptmann soeben einen Sendboten genannt, und die Erinnerung an das unverdiente Lob, das dieser Mensch ihm gespendet hatte, das war's, was dem Doktor die Laune verdarb. Jedes Wort, das der „Narr“ gesprochen, jeder Zug seines durchgeistigten Apostelgesichts, der Ausdruck der schwärmerischen Ehrfurcht, mit dem seine tiefblauen Augen auf ihm geruht – alles hörte, alles sah er wieder, und eine zornige Beschämung erfüllte ihn.

      Er, der trockene, auf seinen Vorteil bedachte Nathanael Rosenzweig – ein Menschenfreund und Samariter? – So einsam er da wandelte auf dem Felde, ihm schoß das Blut in die Wangen, daß sie glühten. Er gedachte all der Hände, die sich im Verlauf seines langen Lebens flehend zu ihm ausgestreckt, und sagte sich: „Nie hast du geholfen außer im Beruf. Und was wir dem zuliebe tun, tun wir uns selbst zuliebe.“ Seine Schuldigkeit hatte er in ihrem ganzen Umfang erfüllt; aber Schuldigkeit – es liegt schon im Worte – ist nur ein Tausch. Mehr als getauscht hatte er nie. Seine Kraft, sein Talent, die Früchte seines rastlos vermehrten Wissens gegen den Wohlstand, den er durch sie erwarb, und gegen die Achtung der Menschen. So hatte er bisher gehalten und – Nathanael warf den Kopf zurück in seinen breiten Nacken – so wollte er es auch ferner halten. Möge erst jeder seinem Beispiel folgen! Möge diese, im Grunde niedere Stufe der Moral erst von der Mehrzahl erreicht sein, dann werden sie zu Worte kommen, die Idealisten, die Träumer von einem goldenen Zeitalter allgemeiner Nächstenliebe. Früher – nicht!

      Jetzt hatte er sich wieder zurechtgefunden und schritt rüstig und sorglos weiter in gewohnter Seelenruhe.

      Lange vor seinem Wagen, von dem trotz allen Ausblickens keine Spur zu entdecken war, erreichte er das steinerne Kreuz. An dessen Fuße kauerte eine klägliche Gestalt. Ein alter Mann, die Knie heraufgezogen bis ans Kinn, eine hohe Schafspelzmütze auf dem Kopfe, um die Schultern die Reste eines blauen Fracks, den vermutlich dereinst in Tagen schlummernden Nationalgefühls der verewigte Gutsherr getragen. Die mageren Beine des Greises wurden von einer ausgefransten Leinwandhose umschlottert und befanden sich, wie sein ganzer kleiner Körper, in einer unaufhörlich zitternden Bewegung.

      Als der Doktor sich ihm näherte und ihn ansprach, erhob er langsam, mühsam das juchtenfarbige, faltige Gesicht und blickte aus halberloschenen, rotumränderten Augen mit dem demütigen Leidensausdrucke eines alten Jagdhundes zu ihm empor.

      „Was tust du hier?“ fragte Rosenzweig.

      „Ich warte, mein gnädiger Herr, ich bete und warte,“ antwortete der Angeredete und streckte seine knöcherne Rechte aus, an deren Fingern ein vielgebrauchter Rosenkranz hing, „ich warte immer auf einen Brief von unserm lieben Herrgott.“

      „Was soll denn unser lieber Herrgott dir schreiben?“

      „Daß ich zu ihm kommen darf, ist ja hohe, hohe Zeit.“

      „Wie alt bist du?“

      „Siebzig, nicht mehr. Aber wie ich aussehe, und wenn Euer Gnaden wüßten, wie mir ist. Da –“ er klopfte auf seine eingefallene, pfeifende Brust – „kein Atem. Jeden Tag meine ich, ich sterbe auf dem Wege, ich erreiche das Kreuz nicht mehr.“

      „Warum bleibst du nicht zu Hause?“

      Der Alte öffnete die Arme mit einer unbeschreiblich hilflosen Gebärde: „Sie jagen mich ja hinaus, die Tochter, der Schwiegersohn, die Kinder. Nun ja – sie haben selbst keinen Platz in der kleinen Schaluppe.“

      „Wem gehört die Schaluppe?“

      „Der Tochter. Ja, der Tochter. Ich habe sie ihr zur Aussteuer geschenkt.“

      „Ein Schürzenvermögen also!“ spöttelte der Doktor. „Und jetzt jagt sie dich aus dem Haus, das du ihr geschenkt hast?“

      „Mein Gott, was soll sie tun? Der Schwiegersohn prügelt sie ohnehin, weil ich so lange lebe. Der Schwiegersohn sagt zu den Kindern: ‚Kinder, betet, daß der Großvater bald stirbt.‘ – Ja!“

      „Du hast da einen saubern Schwiegersohn.“

      „Mein Gott, Herr, die Leute sind schon so. Solche Herren, wie du, wissen nicht, wie die Leute sind. Es gibt noch viel, viel ärgere im Dorf. Besonders jetzt in dieser Zeit.“ Er senkte die keuchende Stimme. „Weh allen Panowies und Panies, die das nächste Jahr erleben!“

      „Warum denn? Was meinst du damit?“

      „O, die armen Herrschaften! Die Armen, Armen!“ wimmerte der Greis und begann bitterlich zu weinen. „Alles wird man ihnen wegnehmen, und erschlagen wird man sie auch.“

      Der Doktor fuhr auf: „Du bist nicht bei Trost!“

      Nun begann der andre die Hände zu ringen!

      „Auch du antwortest mir so? Das ist ein Unglück! Ach, das ist ein Unglück!.. So hat der Herr Pfarrer mir geantwortet, wie ich in der Beichte ausgesagt habe, was ich weiß; so hat der Herr Mandatar mir geantwortet, und der Herr Verwalter hat gar gedroht, mich auf die Bank legen zu lassen, wenn ich solche Sachen rede …“ Er richtete seinen unsicher suchenden Blick auf den Doktor: „Bist auch du mit ihnen einverstanden?“

      „Einverstanden – ich? mit wem?.. Sag alles!“ befahl Rosenzweig. „Was wird ums neue Jahr geschehen?“

      „Männer von jenseits des Meeres werden kommen und werden alle adeligen Besitzungen unter die Bauern verteilen.“

      – Auch die des Pan Theophil Kamatzki. – Wartet, Kanaillen! dachte der Doktor und sprach: „Was wird denn die Regierung dazu sagen?“

      „Die Regierung? Ach! Jesus! Von der Regierung aus ist im vorigen Frühjahr schon alles Land vermessen worden, damit die fremden Männer wissen, wie geteilt