Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte. Marie von Ebner-Eschenbach

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Название Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte
Автор произведения Marie von Ebner-Eschenbach
Жанр Зарубежная классика
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Издательство Зарубежная классика
Год выпуска 0
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erhob und verneigte sich:

      „Welches Wunder meinen Euer Hochgeboren?“

      „Das der Wiedererweckung des polnischen Reiches!“ versetzte die reizende Frau, und aus ihren Taubenaugen schoß ein Adlerblick, und ihre zierliche Gestalt richtete sich heroisch auf.

      Der Doktor verbiß ein Lächeln, und sogleich riefen mehrere Patriotinnen in schmerzlicher Enttäuschung:

      „Sie zweifeln? O Doktor, – ist das möglich? Ein so gescheiter Mann!“

      „Ich zweifle nicht, meine Damen! Wer sagt, daß ich zweifle?“

      „Ihr Lächeln sagt es, das ganz unmotiviert ist, da wir Ernst machen,“ sprach die Gräfin und kreuzte die Arme wie Napoleon.

      „Der Augenblick, das fremde Joch abzuschütteln, ist gekommen … Sie dürfen es erfahren, weil Sie ein guter Pole und unser Vertrauter sind! Das Zeichen zum Ausbruch der Revolution wird in Lemberg auf dem ersten Balle des Erzherzogs gegeben werden!“

      Allgemeines Schweigen folgte dieser freimütigen Erklärung. Die Verschworenen waren betroffen über die Eigenmächtigkeit, mit der Aniela über das gemeinsame Eigentum – den Plan der Partei – verfügte.

      Doch war sie viel zu liebenswürdig und sah auch viel zu reizend aus, als daß man ihr hätte zürnen können. Sie trug ein Pariser Häubchen mit einer Kaskade aus gesinnungstüchtigen rot und weißen Bändern. Den köstlichen Stoff des Morgenkleides hatte ihr Gemahl von seiner letzten Missionsreise nach Rußland, aus Nishnij Nowgorod mitgebracht, – unter welchen Gefahren!

      Ach, es war eine ganze Geschichte … Heute wurde sie aber nicht erzählt, am wenigsten in diesem Augenblick, in dem es vor allem galt, den üblen Eindruck zu verwischen, den die Politikerin auf ihre Umgebung hervorgebracht hatte.

      „Ihr Kleingläubigen!“ rief sie, „zweifelt ihr an der Treue und Zuverlässigkeit eines Mannes, der dem Vaterlande mein Leben erhalten hat?“

      Einige junge Herren beeilten sich zu protestieren, und ein alter Schlachziz mit langem, herabhängendem Schnurrbart erhob sein Madeiragläschen, leerte es auf einen Zug und sprach:

      „Vivat, Doktor Rosenzweig!“

      Die Frau vom Hause wiederholte:

      „Vivat, Doktor Rosenzweig, dem so viele von uns ihre eigene Gesundheit und die ihrer Kinder verdanken!“

      Sie stürzte nach diesem Toast den Rest ihrer sechsten Tasse Tee hinunter, und statt sich erkenntlich zu zeigen, brummte der Arzt:

      „Wie oft habe ich Euer Hochgeboren ersucht, nicht so viel Tee zu trinken. Sie ruinieren Ihre Nerven!“

      Die schöne Festgeberin lächelte überlegen:

      „Guter Gott, meine Nerven! An die werden bald ganz andre Zumutungen gestellt werden!“

      „Ich verstehe – auf jenem Revolutionsballe!“

      „Ja, Doktor! Ja!“ rief Gräfin Aniela dazwischen, – „dem Ball, auf dem wir ein welthistorisches Ereignis inaugurieren!“

      „Bei der Mazurka oder bei der Française?“

      „Beim Kotillon. Die Damen wählen zugleich alle anwesenden Offiziere. Die Offiziere legen zum Tanz ihre Säbel ab. Die Säbel werden fortgeschafft. Kaum ist das geschehen, so werfen sich die Polen auf die waffenlosen Feinde und machen sie nieder!“

      „Vivat!“ rief der Schlachziz, „alle nieder, ohne Pardon!“

      Einige Damen widersprachen und schlugen vor, den Offizieren Pardon zu geben, die ihn verlangen würden. Sie zogen jedoch ihren Antrag zurück, als sie bemerkten, daß er Zweifel an der Echtheit ihres Patriotismus erregte.

      „Meine Herrschaften,“ sagte Rosenzweig, „dieser Plan ist wundersam ausgedacht, aber ausführen werden Sie ihn nicht.“

      „Warum?“ rief's von allen Seiten, „was soll uns hindern?“

      „Ihre eigene Hochherzigkeit, Ihr eigener loyaler Charakter. Edle Damen und edle Herren, wie Sie, können hassen, können befehden, aber sie verraten nicht, und sie morden nicht.“

      „Monsieur!“ entgegnete ein neunzehnjähriges Bürschlein, das eben aus einer Pariser Erziehungsanstalt heimgekehrt war. „Ihr Argument würde im Kriege gelten, aber es gilt nicht in einer Konspiration.“

      „Ganz richtig – weil ja …“ Dem alten Schlachziz war plötzlich eingefallen, daß er jetzt eine Rede halten sollte; er sprang auf, schlug die Fersen aneinander und rief nach langer Überlegung:

      „Vivat, Polonia! Vivat, König Adam!“

      Nun erhob sich in der Ecke des Zimmers eine zitternde, klanglose Stimme. Wie aus der Tiefe eines Berges kam sie hervor, einem Berge von Seiden- und Schalstoffen, von Spitzen, Rüschen und Bändern. Die Stimme gehörte der Starostin Sulpicia, Großtante der Hausfrau, bei der die hochbejahrte Dame ein sehr reich mit Butter bestrichenes Gnadenbrot genoß.

      „Olga, Duschenka moja,“5 sprach sie, „denke vor allem an dein ewiges Heil!“

      Mit Schrecken hatte die Schloßdame das leise Sinken des Enthusiasmus ihrer Gäste wahrgenommen, indessen sie selbst nach der siebenten Tasse Tee auf dem Gipfel der Begeisterung angelangt war. Die Greisin goß mit ihrer Ermahnung Öl ins Feuer. Es schlug auch sogleich lichterloh empor in dem lauten, feierlichen Ausrufe:

      „Alles für Polen! Mein zeitliches und mein ewiges Heil!“

      Gräfin Aniela warf sich, ganz entzückt von dieser Größe, ihrer Freundin in die Arme, die Herren küßten die Hände der Patriotinnen. Einer von ihnen erbat sich die Ehre, aus dem Schuh der Hausfrau trinken zu dürfen. Sie gestattete es aber nicht, aus Rücksicht für den erhabenen Ernst dieser Stunde, und der Abgewiesene setzte sich ans Klavier und intonierte ein melancholisches Nationallied.

      Alle schwiegen, alle horchten gerührt; in manches Auge traten Tränen.

      Die unwiderstehliche Macht dieses Gesanges ergriff sogar einen, der bisher unbeweglich in einer Fensterecke gestanden und am Gespräch nicht teilgenommen hatte.

      Rosenzweig kannte ihn nicht und war in angestammtem Mißtrauen geneigt gewesen, ihn, seiner auffallenden Blässe wegen, für einen der verschämten Patienten zu halten, die sich berühmten Ärzten so gern auf neutralem Gebiet in den Weg stellen, um im Vorübergehen eine Konsultation abzuhalten, für die sie später das Honorar schuldig bleiben.

      Indessen hatte Rosenzweig sich geirrt. Der Fremde machte keinen Versuch, in seine Nähe zu gelangen, während er selbst nicht mehr vermochte, seine Aufmerksamkeit von ihm abzulenken.

      Er war ein mittelgroßer, schlanker Mann mit blondem, dünnem Bart, mit blauen, offenbar sehr kurzsichtigen Augen. Der Eindruck eines ungemein regen Geisteslebens, den seine Züge hervorbrachten, wurde durch die Blässe erhöht, die den Doktor anfangs verleitet hatte, ihn für einen Kranken zu halten. Doch auch von dieser Meinung war er bald abgekommen. Krankheit vergeistigt nicht, wie die Poeten oft behaupten, sie zeichnet vielmehr die Kinder des Staubes mit deutlichen Merkmalen ihrer Abkunft.

      In dem Wesen dieses Mannes aber gab sich kein Zeichen von körperlicher Mühsal kund. Die Leidensspuren auf seiner marmorgleichen Stirn waren durch rastlos arbeitende Gedanken ausgeprägt worden und der Schmerzenszug um den jungen Mund durch frühe, schwere Seelenkämpfe. Die Geringschätzung, mit der das Treiben der Gesellschaft ihn zu erfüllen schien, wurde allmählich besiegt. Die Klänge des schönen Volksliedes ergriffen und bewegten auch ihn. Eine Empfindung verband ihn mit seinen Brüdern: Sehnsucht, leidenschaftlich heiße Sehnsucht nach dem verlorenen Vaterland.

      An diesem Leidensborn hat kein Volk sich so übersatt getrunken wie das, aus dessen Herzen solch ein Lied geströmt. Es singt von dem verirrten Sohne, der heimkehrt zum Elternhaus, voll Reue und glühender Liebe. Zagend steht er an der verschlossenen Tür und hört die Stimme seines Vaters, die nach ihm ruft, und hört das Weinen seiner Mutter … Vater! Mutter! stöhnt er. Sie antworten: Komm! Erlöse uns, wir liegen in Banden … Er rüttelt an der eisernen Pforte, zerpocht sich die Hände, zerschlägt sich die Stirn, schon fließt sein Blut. Vergeblich.



<p>5</p>

Mein Seelchen.