Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1). Judith Kilnar

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Название Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1)
Автор произведения Judith Kilnar
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Год выпуска 0
isbn 9783964640017



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und wünscht sich etwas Abwechslung, und als hätte der Himmel meinen Wunsch erhört, fällt mir plötzlich eine wunderschöne Prinzessin mit goldenem Haar und goldenen Augen in die Arme. Von dir, holde Maid, habe ich schon gehört. Du musst die ehrenwerte Lucy sein!«

      Ich starrte ihn verdattert an und errötete unter seinen Komplimenten. Doch woher kannte er meinen Namen?

      »Ja, das ist sie«, antwortete hinter dem jungen Mann eine andere männliche Stimme.

      Ich befreite mich aus den Armen des Grünäugigen, drehte mich zur Seite und erkannte, wer dort stand. Es war der »Schön-wär’s-Mann« mit der türkisfarbenen Iris aus der Halle der Erkenntnis.

      Er stand vor einer Gruppe von etwa fünf weiteren Burschen, alle in unserem Alter, die interessiert unserer Unterhaltung lauschten. Sie alle hielten Bogen in der Hand. Ich bemerkte auf der Wiese in fünfzehn Metern Entfernung etliche Zielscheiben, in denen Pfeile steckten.

      »Da warst du ja mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort, James«, ertönte Tatjanas belustigte Stimme und erleichtert wandte ich mich zu ihr um.

      »Hallo, Tatjana«, begrüßte sie der, der mich aufgefangen hatte, grinsend.

      »Wie du richtig erkannt hast, und wie Atlas es dir bestätigt hat, ist das hier Lucy de Mintrus. Unser Neuzugang«, stellte Tatjana mich korrekt vor. »Und? Wie geht das Training voran, James?«

      »Es lief sehr gut, bis der Engel neben dir hereingepurzelt ist und uns alle mit seiner Schönheit erstarren ließ.« Er zwinkerte mir zu und ich spürte, wie die Röte meine Wangen hinaufkroch.

      Der junge Mann aus der Halle der Erkenntnis gab ein Schnauben von sich, das James herumfahren ließ. »Was ist dein Problem, Atlas?«, zischte er verärgert.

      Doch Atlas presste nur seine Kiefer zusammen, wandte sich ab und zog einen Pfeil aus einem am Boden liegenden Köcher. Er zielte auf eine der Scheiben und ließ den Pfeil los. Mit einem Surren zischte der nach vorn und traf die Scheibe genau in der schwarzen Mitte.

      Ich starrte den Pfeil mit offenem Mund an.

      James sah Atlas an und runzelte, offensichtlich verärgert, die Stirn, bevor er sich wieder mir zuwandte.

      »Ich hoffe, wir werden uns bald wiedersehen, damit ich mich weiter an eurer Schönheit ergötzen kann, holde Maid.« Er deutete eine Verneigung an und stellte sich gemeinsam mit den anderen auf, um mit dem Bogenschießen fortzufahren, wobei er den am weitesten von Atlas entfernten Platz wählte.

      Tatjana legte mir ihre Hand auf die Schulter und bugsierte mich zu einem kleinen Trampelpfad, der sich durch die Wiese zog.

      »Da hast du aber ordentlich Verehrer gesammelt«, schmunzelte sie und überholte mich.

      Verehrer? Das Wort klang seltsam schön in meinem Kopf nach. Ich hatte noch nie einen jungen Mann getroffen, der mich so mit Komplimenten überhäuft und mit gestelzten Worten meine Schönheit gepriesen hatte wie dieser James. Meine Andersartigkeit hatte auch die Männer von mir ferngehalten.

      Ob er mich tatsächlich schön fand? Oder war es lediglich ein Spaß gewesen, den er aufgrund seiner selbst bekundeten Langeweile mit mir getrieben hatte?

      Noch mehr Kopfzerbrechen bereitete mir allerdings Atlas’ Verhalten. War er immer so schlecht gelaunt? Oder bekam nur ich diese Seite von ihm zu spüren, weil er mich vielleicht aus einem mir noch unbekannten Grund nicht mochte? Hatte ich etwas Falsches gesagt oder getan? War er wütend, weil ich die Halle der Erkenntnis beschädigt hatte? Er war allerdings schon davor schlecht gelaunt gewesen. Ja, wenn ich es mir recht überlegte, hatte er mich von Anfang an so missbilligend angesehen.

      »Nicht trödeln!«, ermahnte mich Tatjana und ich schloss hastig zu ihr auf.

      Hinter der Wiese erstreckte sich ein gekiester Hof, um den mehrere Gebäude standen. Tatjana lief auf das am nächsten gelegene zu. Es war groß und weiß und hatte eine breite schwarze Tür, an die Tatjana klopfte. Das Pochen hallte dumpf dahinter nach. Wir hörten eilige Schritte und die Tür wurde von einem jungen Mädchen geöffnet. Sie hatte schulterlange, glatte brünette Haare und trug dunkelblaue enge Hosen und ein weißes T-Shirt, auf dem ein blaugraues Auge mit einer Wolke drumherum aufgedruckt war. Ihre echten Augen strahlten ebenfalls in einer blaugrauen Farbe und sie lächelte uns an. Sie musste wie alle anderen, die ich bisher getroffen hatte – mit Ausnahme der drei Älteren, Tatjana, Elvon und Mr Honk – ungefähr in meinem Alter sein.

      »Hallo, Tatjana. Wen hast du denn da aufgegabelt?« Sie musterte mich höchst interessiert und hielt die Tür weit auf.

      Tatjana trat ein und ich folgte ihr schüchtern.

      »Das ist Lucy de Mintrus. Eine neue Augenschöne aus dem 17. Jahrhundert. Wir haben bereits die Halle der Erkenntnis und den Saal des Wissens aufgesucht.«

      Das Mädchen blinzelte mir zu. »Guten Tag, Lucy. Mein Name ist Rosalie, aber du kannst mich Rose nennen. Hast du ebenfalls einen Spitznamen?«

      Überrumpelt schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich … ich werde nur Lucy genannt.«

      »Das ist nicht schlimm«, lachte Rosalie hell auf, »ich werde schon noch einen für dich finden. Und falls nicht, dann ist das auch nicht der Weltuntergang.«

      Sie zwinkerte mir erneut zu und ein warmes Gefühl durchströmte mich. Sie war wunderbar sympathisch, ich mochte sie auf Anhieb.

      »Rosalie«, schaltete Tatjana sich ein, »kannst du Lucy mitnehmen und ihr beim Waschen und Anziehen helfen? Ich muss etwas Wichtiges mit Elvon und Mr Starrson besprechen.«

      »Selbstverständlich!« Rosalie hakte sich bei mir ein. »Wo soll ich sie hinbringen, wenn wir fertig sind?«

      »Zu Mr Starrsons Büro wäre nett. Sie soll davor warten.« Tatjana nickte uns zum Abschied kurz zu und verschwand um die nächste Ecke.

      Rosalie grinste mich an. »Das wird ein Spaß mit uns zweien«, rief sie euphorisch.

      Ich nickte nur, obwohl ich so gern etwas Kluges gesagt hätte, um einen guten Eindruck auf sie zu machen.

      Doch offenbar konnte sie sich in mich hineinversetzen, denn sie erkundigte sich mitfühlend: »Ziemlich viel Neues auf einmal, was?«

      »Ja, ziemlich. Außerdem verstehe ich nicht einmal die Hälfte des Ganzen.« Mein Blick glitt nachdenklich über die Wände, während wir langsam einen schmalen Gang entlangliefen. »Auch wenn bis jetzt alles recht … positiv klang.«

      »Ach, das wird schon«, strahlte Rosalie mich an, »mit mir als bester Freundin.«

      »Wirklich?« Es war erbärmlich, doch ich konnte einfach nicht verhindern, dass sich in meine Stimme Sehnsucht mischte. Ich hatte noch nie überhaupt eine Freundin gehabt, geschweige denn, eine beste Freundin, mit der ich hätte spielen, tratschen und Spaß haben können. Kurz und schmerzhaft durchzuckte mich die Erinnerung an Evie. Ich zwang mich, sie zu verdrängen. Die Trauer musste ich mir für später aufheben. Es wäre mir peinlich gewesen, vor Rosalie in Tränen auszubrechen.

      »Wirklich was?« Das Mädchen musterte mich verblüfft. »Du wolltest mich doch gerade nicht echt fragen, ob wir wirklich beste Freundinnen sein könnten?«

      Hoffnungsvoll nickte ich und verfolgte ihr Mienenspiel.

      Sie zog mich grinsend weiter. »Das sind wir doch längst! «

      Ich schaute verlegen zur Seite. »Nun ja, ehrlich gesagt hatte ich noch nie eine Freundin.«

      »Tatsächlich?« Rosalie schob sich eine Strähne hinters Ohr.

      Mir fiel auf, dass sie jeden Fingernagel in einer anderen Farbe bemalt hatte.

      »Ich hatte ebenfalls noch nie eine Freundin, bis auf dich. Das passt doch perfekt. Bestimmt Schicksal.« Ihr linkes Auge zwinkerte mir wieder mal zu und ich lachte, erleichtert über ihre Offenheit und ihren Humor. Rosalie war toll!

      Wir gingen weitere Flure entlang, einige Treppen hinauf und durch mehrere kleine Zimmer, bis wir zu einer weißen Tür gelangten, an der ein Schild mit der Aufschrift »Waschraum«