Название | Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1) |
---|---|
Автор произведения | Judith Kilnar |
Жанр | |
Серия | |
Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783964640017 |
»W-was war d-das?«
»Du hast die Sprache gesehen, sie in dich aufgenommen. Jetzt kannst du dich auch mit Leuten unterhalten, die erst Jahrhunderte nach dir geboren wurden und mit anderen Worten und Ausdrucksarten aufgewachsen sind.« Sie stützte mich und ließ mich erst los, als ich wieder allein stehen konnte. »Jetzt machen wir mit der menschlichen Entwicklung weiter. Mit Technik, der Ernährung, der Geschichte und so weiter.«
Während sie sprach, ging sie einfach in den Nebel hinein. Ich beeilte mich, ihr zu folgen, damit ich sie nicht verlor. Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis wir zu einer großen, breiten Tür gelangten. Offensichtlich hatte die Halle doch Wände und Ausgänge.
Tatjana öffnete die Tür und ich kniff geblendet die Augen zusammen, denn nach dem schummerigen Licht in der Halle der Erkenntnis, war das hier, wie in die Sonne zu schauen. Vor uns erstreckte sich ein weiterer großer Saal, in dessen Mitte eine Tafel mit den merkwürdigsten Speisen stand, die ich jemals gesehen hatte. Auf riesigen silbernen Platten stapelten sich große sahneverzierte Kuchen, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Daneben bog sich eine Schale unter dem Gewicht seltsam aussehender Früchte, die scharlachrot im hellen Licht glänzten. Der ganze Tisch war bedeckt mit Speisen auf Tellern, in Schüsseln und auf Tabletts. Der Boden um den Tisch herum war gepolstert mit großen weichen Kissen.
Wozu die wohl dienten?
Tatjana führte mich an der Tafel entlang, bis ungefähr zur Mitte. Dort stand ein weißer Teller mit saftigen Erdbeeren. Davor stand ein kleines hölzernes Schild, auf dem in schnörkeliger Schrift stand:
17. Jahrhundert, weiblich, 16 bis 17 Jahre
»17. Jahrhundert?« Ich sah Tatjana mit gerunzelter Stirn an. »Wie viele Jahrhunderte kommen denn danach noch?«
Tatjana lächelte amüsiert.
»Ganz genau wissen wir es nicht. Auch wir kennen die Zeit, zwischen der sich die Schleifen befinden, nicht genau. Wir haben Augenschönen aus dem 21. Jahrhundert bei uns. Zwei Mädchen stammen sogar aus dem 22. und 23. Jahrhundert. Allerdings sind sie sehr jung und konnten uns nicht viel Sinnvolles berichten. Außerdem wurden sie zu Lebzeiten gefangen gehalten.«
Ich starrte Tatjana entsetzt an. »Gefangen gehalten? Warum?«
»Wegen ihrer Augen«, seufzte Tatjana und wirkte auf einmal sehr müde und ausgelaugt. »Die eine ist ein Kind des Regenbogens, die andere ein Kind des Veilchens. Ihre Augen haben darum besonders auffällige Farben, zusätzlich zu den ohnehin schon vorhandenen Effekten. Welcher normale Mensch hat eine bunte oder violette Iris? Und wie so oft in der Geschichte der Menschheit zeigt sich auch in Fällen, die mit uns zu tun haben, dass der Mensch Neues und Unbekanntes fürchtet. Das Fremde wird als gefährlich eingestuft und eingesperrt. Es scheint für sie die einzige Möglichkeit zu sein, mit Andersartigkeit umzugehen.«
In meiner Angst vor dem Ungewissen war ich wohl nicht viel besser als diese Leute. Seit ich in dieser seltsamen Schleife gelandet war, waren das Misstrauen und die unterschwellige Furcht nicht von meiner Seite gewichen.
»Menschen tun manchmal schreckliche Dinge, weil sie sich nicht anders zu helfen wissen«, sinnierte Tatjana. »Ich wünschte, dass sie andere Wege fänden, als sich mit Gittern und Mauern ein Gefühl von Sicherheit zu verschaffen«, sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber lassen wir die Schattenseiten des Menschen und fahren mit deiner Vorbereitung fort.« Sie deutete auf den Tisch und die sich darauf befindenden knallroten Erdbeeren. »Du musst diese Erdbeeren essen. Sie dienen als Wissensüberbringer, da sie mit dem Gift der Dromeden gefüllt sind.«
Gift?! Ich wich vom Tisch zurück und alles in mir verkrampfte sich. Wurde ich letztendlich doch getötet? Verwirrt sah ich Tatjana an, als diese auf mein erschrockenes Verhalten hin nur lachte. Das ließ mich zusätzlich auch einige Schritte vor ihr zurückweichen.
»Du verstehst das falsch, Lucy. Es ist kein böses Gift. Es ist nur giftig, wenn du zu viel oder das falsche nimmst. So wie du es bekommst, handelt es sich eigentlich um flüssiges Wissen in Form eines Gifts. Wenn du die Erdbeere isst, wird das Wissensgift in dich einströmen, aber es wird dich nicht töten. Es funktioniert so wie bei dem Nebel in der Halle der Erkenntnis. Das Gift hat so wie der Nebel die Fähigkeit, dir Unmengen von Informationen innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde zu vermitteln. Über den Fortschritt der Menschen, das Produkt aller Forschungen, die nach deinen Lebzeiten durchgeführt wurden.«
Ungläubig starrte ich sie an. Ich würde einfach nur eine Erdbeere essen und müsste nie wieder etwas lernen? Konnte so etwas wirklich möglich sein? Das wäre ja …
Doch Tatjana zerstörte meine schönen Gedanken: »Bedauerlicherweise können wir dir damit nicht alles beibringen. Es wird noch genug Dinge geben, die du später auf herkömmliche Weise lernen musst, aber das Gift wird dir helfen, dich zumindest einigermaßen in der vierten Schleife zurechtzufinden.« Sie schmunzelte. »In gewisser Weise erfährst du sogar etwas über dein eigenes Jahrhundert, denn in deiner Zukunft haben die Menschen viel über die Vergangenheit herausgefunden. Auch über die Jahrhunderte, Jahrtausende und Jahrmillionen davor.«
Ich beäugte noch immer unsicher die unschuldig daliegenden Erdbeeren, mit ihrem grünen Schopf und dem weichen Fruchtfleisch, in dem sich die kleinen Kerne tummelten. In diesem Moment kamen sie mir allerdings wie riesige starrende Augen vor. Ich schüttelte leicht den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Da sah ich also bereits Monster auf Obsttellern!
Tatjana beobachtete noch immer amüsiert mein Mienenspiel, offenbar erheitert durch mein seltsames Verhalten.
Schließlich gab ich mir einen Ruck und nahm eine der Früchte in die Hand. Sie war schwerer, als sie aussah, verströmte aber einen süßen Duft.
»Stell dich besser etwas weiter weg vom Tisch auf«, empfahl Tatjana mir. »Die Erdbeere enthält viel mehr Informationen als der Nebel, und wie du selbst gespürt hast, hatte der bereits viel Kraft. Du konntest dich da schon kaum auf den Beinen halten, und wenn man deine Erschöpfung dazuzählt, ist dein Zustand nicht unbedingt ideal für die Erdbeere. Riskieren wir es also lieber nicht, dass du dich am Tisch verletzt.«
Ich nickte nachdenklich und drehte die Frucht zwischen den Fingern, während ich sie weiter misstrauisch betrachtete.
»Wie soll ich sie essen? Ganz normal, und dann fange ich irgendwann an zu torkeln?«
Die junge Frau grinste. »Es kommt ganz auf das Augenschön an und was es isst. Manche schlucken nur einen winzigen Bissen, andere schaffen einen ganzen Kuchen.« Sie musterte mich mit einem nahezu neugierigen Blick. »Ich bin gespannt, wie viel du schaffst. Vielleicht ist dir die Magie, von der anscheinend ein Haufen in dir steckt, von Vorteil.«
Wahrscheinlich wollte sie mir nur Mut machen, doch das Gerede über Magie machte mir große Angst. Ich hatte diverse Geschichten über sie gehört, die allesamt zwar recht unglaubwürdig waren, in einem entscheidenden Punkt jedoch übereinstimmten. Magie war böse. Gefährlich, schlecht, tödlich. Und sie kam direkt aus der Hölle. Ich schluckte die aufblühenden Gedanken von Geschichten über krummnasige Hexen und Spitzhüte tragende Zauberer herunter, hob die Beere an den Mund und biss hinein, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Das Fruchtfleisch war weich und saftig und schmeckte besser als alles, was ich je gegessen hatte. Ich kaute, schluckte, und biss ein weiteres Stück ab.
Tatjana beobachtete mich aufmerksam, während ich in Windeseile die Erdbeere verspeiste. Sie schmeckte fabelhaft. Ich aß das letzte Stück und hielt nur noch den grünen Blätterkranz in den Händen.
Tatjana zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen, nachdem ich mir die letzten Fruchtsaftreste von den Lippen geleckt hatte. Sie hatte recht. Sollte nicht längst etwas passiert sein?
Ich öffnete den Mund, um sie zu fragen, ob ich etwas falsch gemacht hätte, als sie vor meinen Augen verschwamm und mein Kopf explodierte. Ein furchtbarer Schmerz überkam mich, als würde jemand Nägel in meinen Schädel schlagen, und ein durchdringender