Название | Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1) |
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Автор произведения | Judith Kilnar |
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Серия | |
Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783964640017 |
Ich erkannte Menschen, geteerte Straßen, auf denen sich seltsame Gefährte entlangbewegten, die in der Sonne metallen glänzten. Ein neues Bild glitt vorbei und ich sah Frauen, die wie Tatjana Hosen trugen. Ich staunte über riesige glitzernde Kästen, die bis in die Wolken reichten und plötzlich … wusste ich einfach, dass die seltsamen Metallgefährte Autos waren. Ich begriff, dass Hosen für Frauen ganz normal waren, und dass die glitzernden Kästen Hochhäuser waren, deren Fensterfassade alles um sie herum spiegelte, und dass sie auch Wolkenkratzer genannt wurden.
All das nahm ich nur nebenbei wahr, denn der größte Teil meines Verstands war damit beschäftigt, einen Ausweg zu finden, um den Schmerz zu bewältigen und das Kreischen nicht mehr mit anhören zu müssen, da mich beides zu erdrücken schien. Doch dann, plötzlich, flaute der Strom an Bildern ab. Auch der Schmerz zog sich zurück. Auf einmal fiel mir auch auf, dass ich so entsetzlich kreischte. Es drang gepeinigt aus mir hinaus, weil ich der Qual eine Stimme geben musste. Sofort verstummte ich und lauschte auf das dumpfe Pochen in meinem Kopf. Vorsichtig öffnete ich die Augen und bemerkte nicht wirklich überrascht, dass ich auf dem Boden lag.
Tatjana kniete neben mir, betrachtete mich ängstlich und bemühte sich, mir beim Aufrichten zu helfen.
Ein Stöhnen entfuhr mir, als ich ein heftiges Stechen in meinem Kopf spürte.
»Warum hast du mich nicht vor dem Schmerz gewarnt?« Ich sah Tatjana anklagend an.
Doch die schüttelte noch immer sichtlich beunruhigt den Kopf.
»Ich konnte dich nicht warnen, weil ich nicht wusste, dass das passieren würde. Es ist mir nämlich noch nie jemand untergekommen, dem die Wissensaufnahme wehgetan hat. Es war schon ungewöhnlich, dass du die ganze Erdbeere gegessen hast. Allerdings kommt das schon ab und zu vor. Dass bei dir aber etwas schiefgelaufen ist, habe ich erst bemerkt, als du kalkweiß geworden bist, die Augen verdreht und geschrien hast. Zum Glück wurdest du schnell wieder ruhig. Was hast du denn gesehen?«
Sie hielt mir ein Glas Wasser hin.
»Ich weiß nicht …« Ich trank einen Schluck. »Es fühlt sich merkwürdig an, so als ob ich jetzt alles wüsste. Ich habe Personen gesehen, Gebäude …« Ich verstummte, denn ich konnte nicht beschreiben, wie es gewesen war und was ich gerade erlebt hatte. Selbst wenn man es nüchtern betrachtete und meine Leiden abzog, dann war die Flut von Informationen einfach nur überwältigend gewesen.
Tatjana lächelte zufrieden. »Du weißt jetzt alles, was nötig ist. Zumindest hat das geklappt, auch wenn ich immer noch nicht verstehe, wieso es bei dir anders war. Wobei …« Ihre Augen wurden groß und sie verstummte.
Ich sah sie erwartungsvoll an, während ihr Blick in die Ferne glitt und ein seltsamer Ausdruck auf ihr Gesicht trat.
»Wobei, was?«, hakte ich nach, als sie keine Anstalten machte, fortzufahren.
Sie schaute mich kurz an, bevor sie abwesend den Kopf schüttelte.
»Nichts.«
Merkte niemand, dass, wenn man mit »nichts« antwortete, augenblicklich klar war, dass es nicht »nichts« war?
Tatjana ignorierte meine gerunzelte Stirn, stand auf und streckte mir ihre Hand entgegen, um mich hochzuziehen.
»Wir machen jetzt weiter mit deiner Einführung. Aber keine Angst«, sie lächelte, »du musst nichts mehr essen, und ich gebe dir mein Wort, dass ich darauf achten werde, dass dir nichts mehr passiert.«
Als ich ihre Hand ergriff, zog sie mit der anderen eine alte Taschenuhr aus ihrem Mantel hervor, die an einer goldenen Kette hing. Sie war breit wie ein Apfel und sah seltsamer aus, als jede Uhr, die ich zuvor gesehen hatte. Am oberen Rand waren neun kleine Knöpfe oder Rädchen angebracht, die man betätigen konnte. Irritiert musterte ich das Ziffernblatt, auf dem acht Zeiger, alle verschieden lang, ständig in Bewegung waren. Sie wiesen nicht auf Zahlen, sondern auf zwölf kreisrunde Bildchen, auf denen Symbole und Zeichen zu erkennen waren.
Tatjana warf einen kurzen Blick darauf – was vermochte sie in diesem Durcheinander zu erkennen? – und fuhr mit weiteren Erklärungen fort.
»Wir reisen jetzt eine Schleife weiter, in die vierte Schleife. Dort leben, wie schon gesagt, alle Augenschönen. Du wirst ein eigenes Zimmer bekommen, neue Kleidung, und was du sonst noch benötigst.«
Ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, da ich nach wie vor fasziniert auf das Ziffernblatt der Taschenuhr blickte. Soeben hatte ein kleines Bildchen von einer Wolke zu einer Sonne gewechselt, auf die ein langer dünner Zeiger rückte. Was das wohl heißen sollte?
Auf einmal bemerkte ich, dass Tatjana aufgehört hatte zu reden und mich mit wissendem Gesichtsausdruck beobachtete. Sie nickte zur Uhr hin. »Offensichtlich findest du die hier interessanter, als mir zuzuhören.«
»Nein, nein, ich …«
»Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich kann dich verstehen. Eigenartige Dinge, diese Taschenuhren, was? Sie werden übrigens Omunalisuhren genannt. Neben den verschiedenen Informationen, die sie uns liefern, können sie uns auch in eine andere Schleife bringen.« Sie fasste meine Hand fester und ein schelmisches Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. »Bist du bereit, das auszuprobieren?« Ohne meine Antwort abzuwarten, drückte sie auf den obersten Knopf ihrer seltsamen Uhr.
Ein leises Klicken ertönte, und der dickste Zeiger sprang auf das Feld, das anstelle der Ziffer Elf stand, dessen Bildchen sich soeben zur römischen Zahl IV gedreht hatte. Ein Rauschen ertönte. Ich sah, wie Tatjana und ich grau aufleuchteten, bevor ich in grelles weißes Licht getaucht wurde. Mich überkam ein eigenartiges Gefühl, ganz so, als würde ich fliegen. Schwerelos fühlte ich mich, wie eine Feder, die langsam zu Boden schwebt. Allerdings wurde ich ziemlich unsanft aus diesem träumerischen Gefühl gerissen, als meine Füße wieder festen Boden unter sich hatten. Stolpernd landete ich auf meinem Hintern.
Von Tatjana kam ein kurzes Kichern. Die junge Frau stand fest und ruhig auf dem Boden, ohne zu wanken, als hätte sie schon den ganzen Tag dort gestanden. Sie ließ meine Hand los und steckte ihre Uhr ein. Ihre, wie hieß sie noch gleich? Omunalisuhr?
Sie schmunzelte, während ich mein Kleid raffte und aufstand.
Verstohlen rieb ich mir mein schmerzendes Hinterteil. Meine lächerliche Bruchlandung war mir mehr als peinlich.
»So ergeht es den meisten beim ersten Mal«, tröstete Tatjana mich, als ich versuchte, mir etwas Dreck von dem ohnehin rettungslos beschmutzten Kleid abzuklopfen.
Wir waren auf einem breiten, gekiesten Pfad gelandet, der sich hell durch einen Laubwald schlängelte. Durch das luftige Blätterdach drang warmes Sonnenlicht, das tanzende grüne Punkte auf den Waldweg warf.
»Komm, wir müssen dort entlang«, wies Tatjana mich an und nahm den Weg nach links.
Ich beeilte mich, ihr nachzukommen, und stolperte prompt über ein paar am Boden liegende Stöcke.
Der Weg ging nur ein paar hundert Meter weiter, und als er dann langsam breiter wurde, erkannte ich vor uns eine große Wiese, auf der niedriges Gras neben bunten Frühlingsblumen wuchs. Hinter der Wiese konnte ich gegen das Licht Umrisse von ein paar Häusern ausmachen. Neugierig lief ich weiter.
Neben mir hörte ich Tatjana noch »Vorsicht!« rufen, doch da war ich schon auf ein Stück der Wiese getreten. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie steil abfiel, bevor sie unten gerade weiterging, und verlor sofort den Boden unter den Füßen. Erschrocken ruderte ich mit den Armen in der Luft und erwartete, erneut hinzufallen und blaue Flecken zu bekommen oder mir, noch schlimmer, die Nase zu brechen.
Doch nichts davon geschah. Zwei starke Arme hielten mich fest, sodass ich mein Gleichgewicht wiederfand.
Ich blickte auf und sah in das Gesicht eines jungen Mannes, der etwa in meinem Alter sein musste. Er hatte kurze braune, fast schwarze Haare, durchdringende, strahlend grüne Augen und einen