Die Verlängerung. Theo Beck

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Название Die Verlängerung
Автор произведения Theo Beck
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Издательство
Год выпуска 0
isbn 9783960086086



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Mail und dass sie die Unterlagen auf dem Postweg zusenden würden. Am meisten ärgerte Angela der Schlusssatz: „Bereits vorab weisen wir darauf hin, dass unsere Gesellschaft autorisiert ist, die Interessen des Patienten zu vertreten.“

      „Ist ja lächerlich! Als wenn das nicht von uns geleistet würde!“, meinte sie.

      Angela, ich weiß, nein ich fühlte es, Angela war sauer, nicht auf die Verwaltung, sondern auf meine Töchter. Dabei hätte sie es doch ahnen können, dass die sich nicht mit ein paar schnippischen Sätzen abspeisen lassen würden. Natürlich hatten sie die DGHS eingeschaltet, so wie ich es gewollt habe. Und die hatte umgehend reagiert. Und damit begann der Ärger für die Oberschwester. Sie hatte die Aufgabe, den Einwand in die ärztliche Entscheidung des Oberarztes einzubauen, ihm Wirkung zu verschaffen. Er selbst war für die Verwaltung regelmäßig nicht direkt zu sprechen, nur über seine Mitarbeiter, sein Vorzimmer sozusagen.

      „Das muss man nicht so wörtlich nehmen“, hatte Mohr gemeint. „Die kennen die aktuelle Lage ja gar nicht. Sollten sich erst einmal schlaumachen. Sag das den Verwaltungsleuten. Wir machen erst einmal so weiter.“

      Damit war das Thema für ihn beendet gewesen und sie in einer misslichen Lage. Einerseits hatte sie das Papier von der Verwaltung entgegengenommen. Sie ärgerte sich schon, es getan zu haben. Andererseits entsprach ihre innere Überzeugung natürlich der des Herrn Dr. Mohr. Sie stand zwischen Baum und Borke. Mohrs Antwort, man sehe dem Eingang der avisierten Unterlagen mit Interesse entgegen, mit gleichzeitigem Hinweis auf den ärztlichen Ehrenkodex, die sie weitergab, konnte der Verwaltung natürlich nicht gefallen haben, auch wenn man sie pflichtgemäß an die DGHS weitergeben würde. Der Vorgang würde ordentlich dokumentiert und dem Verwaltungschef zur Kenntnisnahme und zur weiteren Entscheidung ausgehändigt werden. Immerhin war damit Zeit gewonnen. Nur für mich nicht. Und für Angela auch nicht. Die Verstimmung blieb und legte sich wie träger, melancholischer Hochnebel auf das Stationsteam.

      Auch jetzt noch, kein bisschen konziliant, geradezu nachtragend, fühle ich ihren unwirschen Missmut. Zusätzlich zum Reinigungsvorgang war es ihre Aufgabe, für die geordnete Entleerung meiner Blase zu sorgen. Das verstehe ich schon. Schließlich konnte ich nicht dem schlechten Beispiel des Penners in der Zelle folgen. Der Abfluss war auch sowohl in meinem Interesse als dem der Reinigungskraft. Die sah den Schwierigkeiten beim Nachschieben des Katheters interessiert zu. Vielleicht überlegte sie auch, ob sie dank ihrer Erfahrung Angela ihre Hilfe anbieten sollte. Jedenfalls verbesserten sich dabei weder Angelas Stimmung noch ihre Sorgfalt noch mein Befinden. Im Gegenteil. Irgendwie scheint es mir, dass Angela seitdem ihre Fürsorge für mich reduziert hat. So, als wenn sie mir böse wäre. Dabei habe ich doch gar nichts getan! Ich gehe lieber wieder aus dem Bild.

      Ha! Jetzt bin ich wieder in der Kupfermühle! Das Mädchen springt mit einem Hechter vom Startblock in das Wasser und erreicht damit sogleich die Aufmerksamkeit von Hans, der sich mit seitlichen Bewegungen der flachen Hände auf dem Rücken liegend über Wasser hält. Tellern nennt er das. So hat er eine gute Übersicht über das ganze Schwimmbecken. Das sportlich ins Wasser hechtende Mädchen hat er sofort erkannt und auch, dass sie besser springt, als er es kann. Ganz zufällig treibt er auf die Bahn zu, auf der sie schwimmt. Zu einem Zusammenstoß kommt es nicht. Sie stoppt und lächelt ihm zu.

      „Du kraulst gut“, sagt er.

      Sie lächelt ihm weiter freundlich zu. „Und was hast du für einen Schwimmstil?“

      „Tellern. Wie heißt du denn?“, fragt Hans.

      „Killy“, sagt sie.

      „Ich heiß Hans.“

      Langsam schwimmen sie nebeneinander auf den flachen Teil des Beckens zu. Jetzt, da sie nebeneinander stehen, während sie miteinander sprechen, noch bis zur Brust im klaren Wasser, kann ich sie mir richtig ansehen. Hans ist noch ganz der große Junge in einer knapp sitzenden, hellblauen Badehose, schlank bis mager, nicht die Spur von einem männlichen Rettungsring, unbehaart, flachbauchig, lange Beine und gut gebräunt.

      Killy hat auch Farbe, schon etwas rundere Formen und einen braunrot gemusterten Badeanzug an. Er sitzt gut. Nur im Brustbereich etwas locker. Ist wohl auf Zuwachs gekauft. Ihre hellblonden Locken quetschen sich seitlich, lustig und neugierig aus der weißen Badekappe hervor. Die hellblauen Augen sind aufmerksam auf Hans gerichtet.

      Er erklärt ihr gerade das Tellern. Dabei müssen sie manchmal in die Knie gehen, die Hände im Wasser, dann aufstehen, dann wieder runter. Nach mehrmaligem Ein- und Auftauchen rutscht das rechte Schulterbändchen ihres Badeanzuges ab. Leider merkt Killy es nicht gleich. In der hektischen Aktivität des Auf und Ab sorgt ihr Oberteil nicht mehr für ausreichende Bedeckung. Hans sieht auf die kleine gewölbte Brust, nicht größer als ein Körbchen, in unschuldigem Schneeweiß mit blass rotem Punkt. Ein leichter Schreck trifft ihn. In seiner Unsicherheit, ungewohnt, eine solche Situation zu meistern, schaut er auf das Geheimnis.

      Ja schon, er hat auch eine Schwester. Aber die hat ein eigenes Schlafzimmer. Und beim Waschen macht die genauso viel Theater wie er mit seinem Unterkörper. Außerdem ist das ja nicht seine Schwester, sondern ein fremdes Mädchen, das vor ihm steht, direkt vor seinen Augen. Das ist natürlich etwas ganz anderes. Es ist ihm unheimlich, was er da sieht. Er schaut direkt auf den kleinen Hügel und hätte am liebsten seinen Augen befohlen, wieder für Ordnung zu sorgen. Doch er ist hilflos.

      Killy bemerkt schließlich seinen starren Blick. Sie erkennt das Unglück, schiebt den Halter wieder hoch und schnappt ein. Sie ist beleidigt. Da rutscht ihr der Halter runter, entblößt sie, und der Kerl hat nichts Besseres zu tun, als sie zu begaffen! Peinlich! Killy wendet sich ab, schwimmt zur nächsten Badeleiter und verlässt das Becken in Richtung ihres Handtuches oben an der Hecke.

      Und Hans? Was macht der nun? Er geht nicht hinterher. Er schwimmt noch eine Bahn, ärgert sich über sein Schicksal, den unglücklichen Umstand und das Mädchen. Als er aus dem Wasser geklettert ist, mag er auch nicht zu ihr gehen. Das wäre ihm zu peinlich. Und so endet die erste Begegnung für beide unglücklich.

      Abends fährt Hans mit dem Fahrrad von der Kupfermühle nach Hause, normalerweise eine gute halbe Stunde. Sein Gesichtsausdruck ist mürrisch. Seinen Unwillen bekommt das Fahrrad zu spüren. Zu dem Zeitpunkt ist Killy schon lange zu Hause. Sie wohnt nur zehn Minuten Fußweg vom Bad entfernt und Hans fährt unter dem Fenster ihres Jungmädchenzimmers vorbei, ohne es zu wissen. Hätte sie hinausgesehen und er es bemerkt, hätte vielleicht eine ganz kleine Handbewegung gewagt, nur das Zeichen eines Erkennens, wäre die Sache zwischen den beiden sicherlich ganz anders gelaufen. Aber das geschah nicht. Was kam, war eine Pause, durch die alles nur verlängert wurde, unnötig verlängert!

       „Du bist ungerecht! Das ist doch ganz normal, dass nicht alles glatt abgeht.“

      Aber es stört. So wie du! Jetzt brichst du mein Bild ab.

       „Da bist du wieder ungerecht. Nur weil du ungeduldig bist. Weil dir die Geschichte der beiden gefällt, weil sie dir gefallen, die beiden Menschenkinder, weil du ihre Gedanken mitfühlst und ihre Empfindungen wie die eigenen spürst. Du möchtest gerne bei ihnen, noch besser zwischen den beiden sein. Am liebsten würdest du ihnen sagen, was sie tun sollen. Das wollen die aber gar nicht. Das ist dein Egoismus, der dich jetzt ungeduldig macht.“

      Wieso? Für die wäre manches besser gelaufen, wenn sie auf mich hören würden.

       „Was soll daran besser sein? Den Ratschlägen eines alten Mannes folgen? Den süßlichen Geschmack des zögerlichen Probierens verpassen? Das spannende Tasten überspringen? Die prägenden Erlebnisse beim Bäumchen-wechsel-dich auslassen? Zugegeben, das liefe auf eine Abkürzung hinaus. Aber nimmt nicht gerade die Verlängerung die Schärfe aus der Suppe, macht sie genießbarer, als der konzentrierte Sud von sich behauptet?“

      Jede Verlängerung ist unnütz! Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Gerade! Ich zeig es dir! Das ist ja das Gute. Man kann das wegzappen. Einfach in die andere Zeit springen!

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