Der König in Gelb. Manuel Filsinger

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Название Der König in Gelb
Автор произведения Manuel Filsinger
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Издательство
Год выпуска 0
isbn 9783962298562



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sie gekommen war und verschwand zwischen den marmornen Türmen und Kuppeln von Yhtill.

       Das Gelbe Zeichen:

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       The Yellow Sign design © 2020 Chaosium Inc.

       Used with permission.

      AKT I

      „Ich wollte mich gerade abwenden und ins Esszimmer gehen, als mein Blick auf ein in Schlangenleder gebundenes Buch fiel, das in einer Ecke des obersten Faches des letzten Bücherschrankes stand. Ich erinnerte mich nicht daran und konnte die blasse Schrift auf dem Buchrücken von unten auch nicht entziffern, also ging ich ins Raucherzimmer und rief nach Tessie. Sie kam aus dem Atelier und kletterte hoch, um das Buch herauszunehmen.

      »Was ist es?«, fragte ich.

      »Der König in Gelb.«

      Ich war verblüfft. Wer hatte es dorthin gestellt? Wie kam es in meine Wohnung? Ich hatte vor langer Zeit beschlossen, dieses Buch nie aufzuschlagen, und nichts in der Welt hätte mich dazu bewegen können, es zu kaufen. Aus Angst, die Neugier könne mich dazu verleiten, es zu öffnen, hatte ich es mir nicht einmal in Buchhandlungen angesehen. Sollte ich je die Neugier verspürt haben, es zu lesen, so hatte mich die schreckliche Tragödie des jungen Castaigne, den ich kannte, davon abgehalten, jene verruchten Seiten zu erforschen. Ich hatte mich stets geweigert, mir eine Beschreibung des Inhalts anzuhören, und tatsächlich hatte sich nie jemand getraut, über den zweiten Teil laut zu sprechen, sodass ich keinerlei Kenntnis besaß, was diese Seiten enthüllen mochten. Ich starrte den giftig gefleckten Einband an, als sei er eine Schlange.“

      – Robert W. Chambers,

      The Yellow Sign, 1895.

      (Aus dem Amerikanischen von Andreas Diesel.

      „Der König in Gelb“ 1. Auflage Juni 2002, Festa Verlag)

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      SZENE 1: DAS GELBE ZEICHEN

      „Wir hatten schon eine Zeit lang träge und monoton miteinander geredet, als ich bemerkte, dass wir über den König in Gelb sprachen. Oh, welche Sünde, diese Worte niederzuschreiben – Worte, so klar wie Kristall, schimmernd und musikalisch wie ein sprudelnder Quell, Worte, die funkeln und leuchten wie die giftigen Diamanten der Medici! Oh, die Verworfenheit, die hoffnungslose Verdammnis einer Seele, die menschliche Wesen mit solchen Worten in den Bann schlagen und betäuben konnte – Worte, die von Ungebildeten und Weisen gleichermaßen verstanden werden, Worte, die wertvoller sind als Edelsteine, sanfter als Musik, grauenhafter als der Tod! Wir redeten weiter, achteten nicht auf die sich sammelnden Schatten, und sie flehte mich an, die Spange aus schwarzem Onyx wegzuwerfen, die eingelegt war mit dem, was wir nun als das Gelbe Zeichen erkannten.“

      – Robert W. Chambers,

      The Yellow Sign, 1895.

      (Aus dem Amerikanischen von Andreas Diesel.

      „Der König in Gelb“ 1. Auflage Juni 2002, Festa Verlag)

       images Figuren:

      CAMILLA

      CASSILDA

       In einem marmornen Zimmer, in einem der Türme des Palastes von Yhtill, durchstöbert Camilla unzählige Ballkleider in einem vergoldeten Schrank. Cassilda steht währenddessen auf dem Balkon und betrachtet etwas am anderen Ufer von Hali.

      CAMILLA: (Hält begeistert ein gelbes Kleid in die Höhe.) An deiner Stelle würde ich morgen Abend auf dem Ball das Gelbe tragen. Du siehst darin haargenau aus wie Mutter – findest du nicht auch, Schwester?

      CASSILDA: (Scheint Camilla nicht zu hören.)

      CAMILLA: (Dreht sich zu Cassilda um.) Schwester?

      CASSILDA: (Reagiert noch immer nicht.)

      CAMILLA: (Blick wird zunehmend besorgter. Geht langsam auf Cassilda zu und berührt sie sanft an der Schulter.) Ist alles in Ordnung mit dir?

      CASSILDA: (Fährt zusammen, dreht sich um und setzt ein unechtes Lächeln auf.) Verzeih, ich war in Gedanken versunken. Von welchem Kleid sprachst du gerade?

      CAMILLA: (Besorgt.) Du hast wieder Carcosa gesehen, nicht wahr?

      CASSILDA: (Das unechte Lächeln erstirbt sogleich auf den Lippen.) Kein Tag vergeht, an dem ich Carcosa nicht sehe, dort am anderen Ufer von Hali.

      CAMILLA: Carcosa ist nicht real, niemand außer dir vermag es zu sehen. Sieh doch, (Zeigt auf das andere Ufer.) dort drüben gibt es nichts, nur die Sonnen und Halis rätselhaften Nebel.

      CASSILDA: Camilla, ich sage dir, eine Stadt wacht dort am anderen Ufer, zu sehen stets als dunkle Silhouette, ein einziges Gewirr aus nachtschwarzen Türmen und Kuppeln, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Zwei dieser Türme überragen die restlichen, sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen, und ragen so weit gen Himmel empor, dass ihnen selbst die Wolken untertan sind.

      CAMILLA: Es gibt nur eine Stadt an Halis Ufern und das ist Yhtill.

      CASSILDA: (Schweigt.)

      CAMILLA: Du erzähltest mir einst, dass des Nachts der Mond vor Carcosas Zwillingstürmen vorüberziehe. Sag, ist denn dies nicht ein Beweis dafür, dass Carcosa nirgendwo anders als bloß in deinem Kopf existiert?

      CASSILDA: Carcosa ist so fremdartig, dass selbst der Mond es nicht mehr kennt. Denn ewig schon strömt dort kein Leben mehr durch die breiten Straßen, sterben der Hyaden Lieder ungehört, während die Fetzen des Letzten Königs schaurig emporflattern. Doch erst seitdem ich dieses verfluchte Amulett gefunden habe, ist Carcosa gänzlich verloren. (Blickt betrübt auf das Amulett mit dem Gelben Zeichen, das noch immer an der Perlenkette um ihren Hals hängt.)

      CAMILLA: Verfluche nicht das Gelbe Zeichen, oh geliebte Schwester. Denke nur an all das Elend, das uns heimsuchte, bevor Hali es dir zum Geschenk machte: Denke an Vater und daran, wie gebrochen er war nach Mutters Tod. Weder Hunger noch Schlaf suchten ihn heim. Nun geht es ihm besser denn je. Sein Schlaf übertrifft den eines jeden Säuglings, und sein wieder zum Leben erwachter Appetit begrenzt sich nicht bloß auf feine Speisen, sondern auf alle nur erdenklichen Reize, die einem das Leben anzubieten hat.

      Denke an Thale, keinen Vers vermochte er mehr auf Papier zu bringen. Er war leer, beraubt jeglicher Inspiration, leidend unter dem Gedanken, der Welt bereits sämtliche Wunder entlockt und aufgezeichnet zu haben. Seine Feder kennt nun kein Halten mehr und nie zuvor schrieb er solch unvergleichlich schöne Gedichte, die einem zugleich das Blut in den Adern gefrieren lassen.

      Denke an Uoht, welch kühner Krieger, welch weiser Feldherr er doch ist. Doch konnte er von seinen Gaben nie richtig Gebrauch machen. Nicht bevor unser Nachbar, das wilde und barbarische Königreich Robardin uns den Krieg erklärt hat.

      Denke an Naotalba. Oh, welch traurige Ironie. Er, der Hohepriester von Hoseib, fand in der Religion letztlich keine Zuflucht mehr. Er war ermüdet von ihrer erdrückenden Fadheit und Eintönigkeit. Verzweifelt glaubte er, bereits sämtliche Weisheiten der Hyaden erlernt, und somit kein erstrebenswertes Ziel im Leben mehr zu haben. Doch auch er wurde eines Besseren belehrt. Seine Reformationen finden im ganzen Land Anerkennung und Bewunderung. Naotalba wird vom Volk sogar als ein Heiliger, ja ein Spross der Hyaden gepriesen.

      Und wenn auch das dich nicht zu überzeugen vermag, so denke an mich, Schwester. Wie langweilig und fad war nicht auch mein Leben gewesen. Alle Tänze und Lieder waren mir bereits seit Kindesbeinen an vertraut, jedes meiner Kleider hatte ich schon so oft zu den immer gleichen Festen getragen und einen jeden Jungen am Hofe kannte ich