Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt

Читать онлайн.
Название Kalter Krieg im Spiegel
Автор произведения Peter Schmidt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847658351



Скачать книгу

einer anderen Welt anstarrte (wie die Geliebte, die sich als Gewohnheitstrinkerin entpuppt). Er hatte mich noch nicht blau gesehen.

      »Besorgen Sie für Leo und mich noch zwei Flaschen Riesling … irgendwo an der Trinkhalle. Sie werden schon eine finden, die geöffnet ist. Und bringen Sie sich selbst ein leeres Glas mit.«

      »Beabsichtigen Sie da drinnen ein Besäufnis zu veranstalten?«, fragte er mürrisch (vermutlich, weil er sich noch gut daran erinnerte, dass ich ihn wegen seines »hageren Pickelgesichts« von Koflers angeblich empfindsamer Ästhetenseele hatte fernhalten wollen).

      Ich griff in die Jackentasche und drückte ihm einen zerknüllten Fünfzig-Mark-Schein in die Hand, wobei mir die Nachricht aus dem L.D.A. zwischen die Finger geriet. Als Kruschinsky im Fahrstuhl war, hielt ich den Zettel dicht vor die Augen, denn meine Hand zitterte, zitterte wie Koflers Fingerspitzen. Ich hatte Mühe, den schwimmenden Buchstaben zu folgen. Der Text kündigte an, dass ein Kurier aus Ost-Berlin mit neuen Nachrichten herüberkommen würde.

      Was mich schon beim ersten Lesen stutzig gemacht hatte, war, dass man dafür einen Kurier benötigte …

      Ich trat ans Fenster und sah hinunter. Das Licht innerhalb der Grenzbefestigungen erschien so bühnenhaft unwirklich wie immer; von den Masten der Bogenlampen ausgehend, beleuchtete es scharf und abgezirkelt den Todesstreifen bis hin zu den beiden Reihen Stacheldrahtzaun, zwischen denen sich eine vierfache Barriere aus spanischen Reitern erstreckte.

      Das Gelände dahinter war unbeleuchtet. Erst ein gutes Stück weiter – jenseits der wie düstere Mahnmale aufragenden Fabrikgemäuer und leerstehenden Wohnhäuser – zeigte sich Licht in einzelnen Fenstern, wie kleine Inseln der Wärme.

      Mit dem Nachtglas suchte ich die Hauswand in der Roßstraße ab. Eine schmale Straße, fast eine Gasse, zog diagonal und schwach beleuchtet, aber völlig menschenleer, durch mein Gesichtsfeld. Zwischen den Dachausschnitten und Hauswänden war der Gehsteig zu erkennen. Der Hauseingang lag im Schatten. Ich presste das Glas gegen die Scheibe, um nicht zu wackeln.

      Das Dachfenster drüben sah aus wie gewöhnlich. Keine Spur einer Veränderung.

      Ich musterte die künstlich eingespiegelte Gardine mit dem geblümten Schirm der Wohnzimmerlampe dahinter, die anheimelndes Licht verbreitete, und mit einem Male befiel mich bleierne Müdigkeit …

      Es war nicht der Alkohol: Ich fühlte mich alt und ausgelaugt; ich ahnte, dass alles nur Fassade war und dass man nie zum eigentlichen Kern der Dinge vordringen würde – Augenschein, Fassade, Theater-Kulisse wie dieses Fenster oder der Todesstreifen dort unten, der Angst und Unsicherheit maskierte, Misstrauen und Argwohn.

      Der Prophet des Dritten Weges würde sterben, weil es das große Marionettentheater so verlangte – nicht etwa ein Stück, das die Herren rechts und links des Eisernen Vorhangs inszeniert hatten (man hätte es vielleicht durchschauen können), ja nicht einmal Gott oder der Teufel, sondern der blindwütige Zufall, dessen Fäden nicht weniger unentrinnbar zogen. Es gab nirgends einen überzeugenden Beweis dafür, dass die Freiheit, die einem das Bewusstsein vorgaukelte, wirklich war (aber es sprach alles für eine Illusion, und dass etwas anderes unsere Gedanken und Willensimpulse so genau bestimmte wie den Blitz, die Wolken und den Regen). Darum erschien mir der Kampf um Ideologien sinnlos.

      Wenn es etwas gab, das mich gleichgültig ließ, dann war es der Glaube an Ideologien: Von dieser Seite gab es keine Hoffnung.

      Gewöhnlicher Defätismus oder Fatalismus resigniert vor der Übermacht der Mächtigen; ich sah zwar diesen Einfluss auch, aber die Mächtigen selbst waren nicht weniger Sklaven einer noch gewaltigeren, blinden Naturmacht.

      Mir war es immer lächerlich erschienen, zu glauben, dass, als mein Vater und meine Mutter durch einen geplatzten Vorderreifen starben, dies nur der Nachlässigkeit des Tankwarts zuzuschreiben war, der den Riss im Gummi hätte entdecken können. Sondern der beschädigte Reifen und die Gleichgültigkeit des Tankwarts hatten gute Gründe, und das Ergebnis musste wiederum zu unausweichlichen Konsequenzen führen – nämlich genau zu jenen, die mir dann tatsächlich zu schaffen machten.

      Ich verstand nicht, wieso ein scharsinniger Mensch wie Kofler das übersehen haben konnte und woher er seine Zuversicht nahm.

      Ich war davon überzeugt, dass ich diese Arbeit tat, weil ich sonst in der Gosse verkommen wäre. Ich hatte mich auf das Machbare verlegt. Dass ich mich darum bemühte, den jeweiligen Schuldigen zu finden, war dem gleichen elementaren Bedürfnis zuzuschreiben – weil es nämlich ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend verursachte und die Wespen und Hummeln in meinem Schädel zu summen begannen, wenn ich einen Unschuldigen ans Messer lieferte!

      Kofler dagegen berief sich auf die Freiheit. Und er setzte auf Ideale – angesichts der Realitäten ein absurdes Bemühen (oder lag der wirkliche, der »bessere« Realismus etwa darin, das Unmögliche zu fordern?). Also stellte ich das Nachtglas auf den Tisch zurück und ging hinein, um seine Meinung darüber zu hören.

      Er brauchte eine Weile, bis er meine Fragen ernst nahm. Wir waren beide ziemlich angesäuselt.

      »Sie sind ein merkwürdiger Kerl«, lachte er. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Oder ist das wirklich Ihre Überzeugung? Glauben Sie denn, mit dem Unsinn leben zu können?«

      Er machte eine Pause und fuhr dann fort:

      »Selbst wenn es wahr wäre, wir dürften es nicht glauben … Wir müssten handeln, als sei es nicht wahr. Glücklicherweise sind das unlösbare Fragen und in der Praxis entscheiden wir immer so, als seien sie nicht gestellt. Wir sind frei. Was uns fehlt, ist Vertrauen und guter Wille.«

      Kruschinsky brachte zwei Flaschen Wein und ein leeres Glas mit, als er hereinkam. Er setzte sich an den Tisch und hörte zu. Sein Mund war halb geöffnet; die Augen in seinem blassen Pickelgesicht rollten fragend hin und her – als versuchte er mit Blicken zu ergründen, welche unerhörte Veränderung vorgegangen war, die aus einem verdächtigen Subjekt einen harmlosen Zechkumpanen werden ließ.

      »Selbst wenn es diese Unfreiheit gäbe«, fuhr Kofler fort, » – als Staatsanwalt hätten Sie schon lange vor dem Fall Pysik die Konsequenzen daraus ziehen müssen. Denn wo keine Freiheit ist, da gibt es auch keine echte Schuld. Unser Gewissen ist dann nur eine Laune der Natur. Es gilt das Verursacherprinzip. Verursacher werden wie Irrläufer aus dem Verkehr gezogen.

      Die Welt ginge vor die Hunde, wenn wir das glauben wollten«, erklärte er und nahm einen tiefen Schluck. »Nein, nein, an der Freiheit des Individuums halten wir fest, hüben wie drüben, drinnen wie draußen. Ich meine die innere und die äußere Freiheit. Auch wenn Ihre Art von Defätismus – mit der einen oder anderen Begründung – unter der Jugend weit verbreitet ist und die äußere Freiheit im Osten tausendmal verraten wird. – Eine andere Frage: Wie lange wollen Sie mich noch hier festhalten?«

      »In drei oder vier Tagen wird unsere Arbeit erledigt sein«, erwiderte ich. »Dann dürfte der Abwehrdienst seinen Auftrag erfüllt haben.«

      »Tja, Sie haben den Kode der Fahrstuhltür ausgetauscht, nehme ich an? Was bleibt mir also anderes übrig?«, lachte er. »Übrigens werde ich mich dann in der Nähe von Köln niederlassen. Man hat mir ein Haus angeboten. Ein gutes Stück von hier entfernt – aber wenn Sie sich mal in der Gegend aufhalten …? Sie beide, meine ich.«

      »Wir werden kommen«, sagte ich.

      »Das Haus ist zwar schon alt und ein wenig baufällig, aber es liegt weit außerhalb der Stadt im Grünen. Die passende Einsiedelei, um einigen versponnenen Ideen nachzugehen. Ich hoffe, dass meine beiden Töchter demnächst entlassen werden und eine Ausreisegenehmigung erhalten.«

      »Man wird Ihnen dort keine Ruhe lassen.«

      »Das ist der Punkt, um den ich Sie noch bitten möchte! Ich will vermeiden, dass mein Name mit dieser Bewegung identifiziert wird – nicht eher, als bis man hört, was ich zu sagen habe. Ich beabsichtige weder Reden zu halten noch Interviews zu geben.«

      Wir leerten die beiden Flaschen. Kruschinsky vertrug noch weniger als ich. Nach ein paar Gläsern rötete sich sein Gesicht, und seine Augen bekamen einen traurigen Glanz.