ÜBER BOCK UND STEIN NACH SANTIAGO. Johannes Borer

Читать онлайн.
Название ÜBER BOCK UND STEIN NACH SANTIAGO
Автор произведения Johannes Borer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737540551



Скачать книгу

auf das schöne Zimmer mit Bad und Doppelbett. So schnell wurden auf dem Jakobsweg Freundschaften geschlossen. Natürlich würde nichts passieren, denn der Pilgerehrenkodex verbietet sexuelles Verlangen und nach dem gemeinsamen Nachtgebet ist es ohnehin obligatorisch, die Lichter zu löschen.

      Herberts Name wurde geändert, denn er ist glücklich verheiratet und seine Ehefrau kann ja nicht wissen, dass ein Engelsonderkommando über dem Jakobsweg sexualhemmenden Weihrauch versprüht. (Bei mir hat es gewirkt, bei anderen vielleicht weniger.) Wenn also in dieser Nacht doch etwas passieren würde, dann wäre es bestimmt nicht gewollt. Es wäre höchstens eine Reflexbewegung im Halbschlaf, nur um zu sehen, ob die Ehefrau oder der Partner noch da ist, wie man das zu Hause manchmal macht. So eine kurze zärtliche Berührung, wie sie mir in O Cebreiro widerfahren ist. Dort standen die Stockbetten in der staatlichen Herberge teilweise nebeneinander. Der Italiener neben mir hielt in der Nacht kurze Zeit meine Hand und streichelte sie. Dann schreckte er plötzlich auf und entschuldigte sich. Kein Problem – solche Sachen passieren eben in den engen Herbergen und auf dem Jakobsweg sollte man sich ja schließlich näherkommen.

      Am nächsten Tag hatte Herbert seine Spontanbekanntschaft an einen anderen Pilger verloren und er war wieder allein unterwegs. Eine Ablösesumme, wie etwa beim Fußball üblich, soll nicht im Spiel gewesen sein.

Über Bock und Stein nach Santiago

      Ein Geisterfahrer vor Lorca

      Ich hatte die Herberge ohne Frühstück verlassen. Erst nach einem einstündigen Marsch gönnte ich mir in Puente la Reina einen Kaffee und ein Tordilla-Bocadillo. Während der Frühstückspause traf ich das finnische Schnarcher-Ehepaar, das ich in Valcarlos kennengelernt hatte. Beiden ging es ziemlich mies. Er hatte Durchfall und sie ein geschwollenes Gesicht. Hatte der Mann womöglich zurückgeschlagen, als seine Frau ihn wieder einmal wegen des Schnarchens schüttelte? Undenkbar bei einem so harmonischen Paar! Der Grund war wohl eher ein Virus oder irgendein Ungeziefer.

      Über Bock und Stein nach Santiago Die Brücke über den Río Arga in Puente la Reina

      Ich wünschte ihnen gute Besserung und lief weiter über die berühmte Brücke, die dem Ort den Namen gab. Dann holte mich die Französin Monique ein, die ich seit dem Abendessen in Zubiri kannte. Wir unterhielten uns eine Weile, aber sie lief viel zu schnell und ich hatte große Mühe mitzuhalten. Beim Aufstieg zur Autobahn schloss sie sich einer Gruppe Franzosen an. Ich lief dann mit Wolfgang, den ich seit Pamplona kannte und der mich immer wieder mit einem schrägen oder lustigen Spruch zum Lachen brachte. Der Pilgerweg folgte der Autobahn und querte diese gelegentlich. Während ich im malerischen Dörfchen Cirauqui eine Fußlüftungspause einlegte, ging Wolfgang wieder seinen eigenen Weg.

      Ausgeruht lief ich weiter, an der Autobahn entlang, bis kurz vor Lorca ein Geisterfahrer auf mich zuraste.

Über Bock und Stein nach Santiago

      Auf dem schmalen Weg konnten wir nicht aneinander vorbei, deshalb sprang ich vom steinigen Weg ins hohe Gras. Ein braungebrannter, bärtiger Mann mit einem einrädrigen Gefährt holperte in hohem Tempo an mir vorbei. Auf diesem Einrad-Eigenbau, den er hinter sich herzog, hatte er seine Pilgerhabseligkeiten festgebunden. Immerhin kam noch ein grimmiges »Buen camino« über seine Lippen. Vermutlich war er es leid, ständig zu grüßen, denn heute waren wieder sehr viele Pilger nur in eine Richtung unterwegs.

      Gerne hätte ich mit ihm gesprochen und ihn nach seinen Erfahrungen und dem Ziel gefragt, denn es gab nur wenige Pilger, die den Weg in umgekehrter Richtung gingen. Aber bevor ich reagieren konnte, sah ich ihn nur noch von hinten. Ich schaute ihm lange nach und beobachtete, wie alle Westwärtspilger vom Weg abkamen und ins hohe Gras auswichen.

      Über Bock und Stein nach Santiago Nicht alle, die entgegenkommen, sind schwarze Schafe

      Ohne Hilfsrad an meinem Rucksack schleppte ich mich hinauf nach Lorca. In einer Bar machte ich einen kurzen Halt und bestellte ein kühles Bier.

      In Villatuerta versagten mir dann die Beine den Dienst und ich fand in der leicht esoterischen Herberge »La Casa Mágica« ein komfortables Fünfbettzimmer. Im selben Zimmer waren zwei Amerikaner. Jim, der seit zwanzig Jahren mit einer Schweizerin verheiratet war und in Zürich lebte, und der Bodybuilder Brad, der gerade ein Rennen gegen einen Russen verloren hatte. Wie Spitzensportler hatten sich die beiden während Tagen gegenseitig angestachelt, immer weiter und immer schneller zu laufen. Fünfunddreißig bis fünfundvierzig Kilometer pro Tag mussten es schon sein. Leider hatte Brad bei diesem Ego-Rennen seine Beinmuskeln total überfordert und konnte fast nur noch kriechen. Der Arzt hatte ihm geraten, sich mindestens drei Tage lang auszuruhen.

      »Diese Rennerei war totaler Blödsinn!«, meinte Brad. »Die USA haben zwar gegen Russland verloren, aber ich habe eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Ab heute werde ich den Jakobsweg viel langsamer und besinnlicher weiterlaufen.«

      Auch in dieser Herberge waren wieder einige sympathische Pilger abgestiegen, die ich auf dem Weg kennengelernt hatte. Zum Beispiel Jean-Claude aus Grenoble, Klara aus Passau, die Deutschen Christian und Markus und der Franzose Arnaud. Mit all den netten Menschen waren der Nachmittag und Abend sehr unterhaltsam und das Pilgermenü wieder einmal fantastisch. Und als mir Arnaud bessere Ohrstöpsel schenkte, war auch die Nachtruhe gesichert.

Über Bock und Stein nach Santiago

      Zitronengesichter am Weinbrunnen von Irache

      Nach einem super Frühstücksbuffet lief ich gut genährt und erholt durch Estella und weiter zum Weinbrunnen von Irache.

      Obwohl es erst etwa neun Uhr war, freute ich mich als Weinliebhaber auf die Degustation und den frühen Apéro. Schon bald hörte ich die »Eviva España-Gesänge« einer fröhlichen Radpilgergruppe. Sie standen vor dem Brunnen Schlange, scherzten und fotografierten sich gegenseitig. Endlich war ich an der Reihe. Ich pumpte meinen mitgebrachten Becher mindestens halbvoll. Nach einem ersten Schluck verzog ich das Gesicht zu einem säuerlichen Grinsen. Hatte ich es mir doch noch gedacht. Von einem Gratiswein durfte ich nicht zu viel erwarten. Erst jetzt bemerkte ich die zahlreichen Zitronengesichter mit Weingläsern in der Hand um mich herum.

Über Bock und Stein nach Santiago

      Ein Radpilger fragte mich, ob ich ihn fotografieren könne, und streckte mir sein Smartphone entgegen. Ich stellte den Becher auf den Boden und fing an zu knipsen. Weitere Radpilger baten mich um Fotos und so wurde ich zum vielbeschäftigten Fotografen der Bodega Irache.

      Als ich mich endlich wieder um meinen Becher kümmern konnte, schwammen zwei Ameisen im Sauerwein. Ich rettete ihnen das Leben, indem ich sie mitsamt dem roten Nass an den Wegrand schüttete. Meiner Meinung nach war das keine gute Weinwerbung für Leute, die normalerweise keinen Wein trinken. Trotzdem gab es Pilger, die ihn sogar sehr gut fanden. Vielleicht gab es sogar Schnäppchenjäger, die ganze Flaschen abpumpen und nach dem Genuss nicht mehr so richtig bei der Sache waren. Wolfgang beispielsweise vergaß seine Trekkingstöcke beim Brunnen und vermisste sie erst am Abend.

      Ich lief dann ziemlich nüchtern weiter durch den Wald und die schöne und sonnenbeschienene Landschaft bis Villamajor de Monjardín. Dort bestellte ich in der Albergue ein Glas guten »Castillo Irache«. Nun konnte ich mein Urteil vom Weinbrunnen revidieren: Es gibt also auch sehr gute Irache Weine.

      Es war noch etwas zu früh, um mich schon hier auf ein Bett zu legen, deshalb lief ich weiter durch eine wunderschöne Landschaft Richtung Los Arcos. Ich lief und lief, wurde müder und müder und weit und breit war kein Restaurant oder Rastplatz in Sicht.

      So kam der Moment, in dem ich meinen Rucksack einfach auf den Boden warf, mich etwas weiter entfernt an den Straßenrand setzte und mich mit einer Banane und einem Müsliriegel