Название | ÜBER BOCK UND STEIN NACH SANTIAGO |
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Автор произведения | Johannes Borer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783737540551 |
Erste Schnarcher in Valcarlos
Als ich in Valcarlos nach der Herberge suchte, kam mir ein älterer Pilger entgegen. Er sprach Französisch und zeigte mir den Weg. »Ich heiße Jean-Claude und komme aus Grenoble. Ich bin durch Frankreich bis hierher gelaufen. Vor zwei Monaten ist meine Frau an Krebs gestorben. Mit dieser Pilgerreise will ich diesen schweren Verlust verarbeiten«, erklärte er ohne Umschweife.
In der kleinen Gemeindeherberge herrschte eine familiäre Atmosphäre. Weil der Koch des Dorfrestaurants krank war, mussten wir Pilger unser Menü selbst zusammenstellen. Jeder kaufte im Dorfladen etwas ein, dann wurde geteilt, gekocht und gegessen. Pilger aus fünf Nationen saßen gemütlich zusammen und machten Scherze auf Englisch oder Französisch. Jean-Claude fotografierte das fröhliche Beisammensein mit seinem Smartphone und übermittelte die Bilder gleich an seine vier erwachsenen Kinder. Sie sollten sehen, dass es ihm gut ging und er ständig neue Pilgerfreunde kennenlernte.
Gegen zehn Uhr hatten alle die nötige Bettschwere und wir verschwanden in unseren Schlafsäcken. Schon bald fing der pensionierte Finne neben mir an zu schnarchen. Nach etwa zehn Minuten erhob sich eine Gestalt von einem der oberen Stockbetten, huschte zum Schnarcher hinüber und schüttelte ihn. Das Quietschen und Scheppern des Eisenbettes war um einiges lauter als das Geschnarche. Die Ehefrau des Schnarchers forderte diesen auf, sofort mit dem Schnarchen aufzuhören, weil die internationale Pilgerfamilie sonst nicht schlafen könne.
Dann war einen Moment lang Ruhe.
Bis der Italiener Sergio seine Motorsäge in Betrieb nahm. Leider war er, anders als der Finne, allein unterwegs. Und niemand kannte die Telefonnummer seiner Frau. So gab es nur eins: Toleranz und die Ohrstöpsel noch etwas tiefer reinstecken. An diese Geräusche würde ich mich wohl gewöhnen müssen.
Regenbogen über Roncesvalles
Als wir am Morgen den Aufenthaltsraum betraten, stand ein kleines Frühstück bereit. Annamaria, die Herbergsleiterin, hatte es in aller Frühe vorbeigebracht. Die Finnen verschenkten noch einige Eier, die sie am Vortag gekauft hatten, und so konnten wir den Tag gut genährt in Angriff nehmen. Um punkt acht Uhr lief ich bei Regen und Wind allein los. Zuerst auf der Passstraße und dann auf einem Naturweg an einem Bach entlang. Auf dieser Strecke gab es fast keine Pilger. Allerdings gab es auch keine Bank, keine Hütte zum Unterstellen und schon gar keine Kneipe – nur Schafe.
Ich blieb bei den Schafen stehen und hielt inne. Als sie anfingen, mich vielsagend anzublöken, wurde mir klar, dass ich mich nun definitiv in Spanien befand.
Der Weg wurde steiler und steiler, und ich wurde müder und müder. Alle paar hundert Meter warf ich meinen Rucksack auf den nassen Waldboden und stärkte mich mit Schokolade und Energy-Power-Riegeln, die mir meine Tochter mit auf den Weg gegeben hatte.
Bei einer dieser Pausen keuchte Jean-Claude an mir vorbei. Er wollte allein weiterlaufen und sich auf keinen Fall meiner Langsamkeit anpassen. Kein Problem, jeder Pilger läuft sein eigenes Tempo. Kurz vor dem Ibañeta Pass holte ich ihn dann trotzdem wieder ein.
Auf dem Pass war es kalt und neblig und ich war froh, die einfachere Route gewählt zu haben. Bei diesem Wetter war wohl auch auf der schöneren »Route Napoléon« nicht viel zu sehen. Nach dem Abstieg zeigte sich kurz die Sonne und ein Regenbogen wies mir den Weg zum Kloster Roncesvalles.
Ich freute mich auf das Ankommen und das Klosterleben in dieser alten Augustinerabtei. Ich stellte mir vor, wie mich die Mönche herzlich empfangen würden und ich mich in einer kargen, aber ruhigen Mönchsklause etwas von den Strapazen erholen würde. Später würde mich dann der Abt durchs Kloster führen. In der Bibliothek würde ich in uralten Kostbarkeiten blättern. Der Staub würde mich zum Husten bringen und ein Mönch mit einem Kellerschlüssel würde sich um meine trockene Kehle sorgen und mich in den gutbestückten Weinkeller führen. Dort würde ich einige Raritäten degustieren dürfen, bis ich mich, etwas später, mit den anderen Mönchen, durch ein mehrgängiges Pilgermenü schlemmen würde. Nach dem Essen würden wir mit Zigarren und Brandys am Kaminfeuer sitzen und die attraktive Nonne beklatschen, die einen heißen Flamenco auf den Holzboden donnerte.
Ganz so war es dann doch nicht. Trotzdem wurde ich von freiwilligen Helfern ganz herzlich empfangen. Die »Mönchsklause« war sehr groß und modern. Ich musste sie allerdings mit einigen anderen Pilgern teilen. Das Pilgermenü wurde im nahen Restaurant serviert.
Ich saß an einem Vierertisch mit Helmut, einem Österreicher, der seit fünfundzwanzig Jahren in Las Vegas lebt, dem etwas verschlossenen Marc aus New York und dem Bretonen Joseph. Weil der Bretone kein Englisch sprach und die anderen kein Französisch, waren meine Dolmetscherdienste gefragt.
Das dreigängige Pilgermenü für neun Euro schmeckte ausgezeichnet. Als Hauptspeise hatte ich Fisch bestellt. Als er serviert wurde, hatte ich den Regen und das miese Wetter vergessen. Schon vor der Ankunft im Kloster war ich von einem Regenbogen begrüßt worden und nun lag eine ganze Regenbogenforelle auf meinem Teller.
Ich hoffte, dass die tanzenden Nonnen noch zum Einsatz kommen würden, aber an diesem Abend war das leider nicht der Fall. Nur wenige Minuten nach dem Essen begann in der Klosterkirche die Pilgermesse und diese wollte ich auf gar keinen Fall verpassen. Die Kirche war gut besetzt und wir Pilger wurden von den Mönchen in unserer Landessprache begrüßt. Es war fast wie an Weihnachten oder Ostern, wenn der Papst in unzähligen Sprachen den Segen erteilt.
Die königliche Familie in Zubiri
Nach einer ruhigen Nacht im Kloster regnete es morgens in Strömen. Meinen Vier-Euro-Regenponcho hatte ich schon beim Anziehen zerrissen. Er hing in Fetzen an meinem Körper.
»Kann ich meinem angeschlagenen Fuß den für heute geplanten Zweiundzwanzigkilometermarsch zumuten oder nehme ich besser den Bus bis Pamplona?«, überlegte ich. »Was mache ich dann in Pamplona bei diesem Regen? Soll ich vielleicht doch versuchen, bis Zubiri zu laufen? Hält der Fuß oder muss ich die Wanderung abbrechen und mit dem Taxi nach Pamplona und von dort nach Hause fahren?« Langes Überlegen brachte mich auch nicht weiter, also lief ich einfach los.
Beim Wandern durch diese große Pyrenäenbadewanne waren meine Beine schon nach kurzer Zeit durchnässt und auch meine Schuhe wurden immer feuchter. In einer Bar in Aurizberri/Espinal war es nach zwei Stunden Regenwanderung Zeit für eine Pause mit Kaffee und einem großen Bocadillo (Schinken- oder Käsebrot).
Nach zwanzig Minuten war meine Trekkinghose schon wieder trocken. Super! Auch die Regenjacke hielt dicht. Ich freute mich über meine gute Ausrüstung und lief weiter durch die Regenlandschaft. Nach einem steilen Abstieg durch ein steiniges Bachbett erreichte ich am Nachmittag endlich Zubiri. Mein Problemfuß hatte den Härtetest bestanden.
In der Gemeindeherberge fand ich für acht Euro ein freies Bett. Alles war nass. Auch die Sachen im Rucksack und natürlich meine Wanderschuhe. Wie trocknet man Schuhe ohne Sonne, ohne Heizung und ohne Föhn? Ich sah, dass einige