Название | Die Sagen und Volksmärchen der Deutschen |
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Автор произведения | Friedrich Gottschalck |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783750214132 |
Da indessen nach der Verschiedenheit der Zeiten
sowohl als der einzelnen Charactere und selbst der
augenblicklichen Stimmungen auch die Ansichten
vom Leben und die Ansprüche an dasselbe höchst
verschieden sind, so müssen auch die einzelnen Dichtungen
darnach eine sehr ungleiche Gestalt zeigen.
Bald nämlich sind sie heiter scherzend, bald bitter
spottend und strafend, dann schmerzlich klagend, und
dann wieder tröstlich beruhigend, bald vollständig beglückend,
bald tragisch versöhnend, immer aber doch
auf die eine oder die andere Weise besänftigend und
befriedigend.
Und auf gleiche Weise verhalten sich nun auch die
Volkssagen. Alles, was von der Poesie hier im Allgemeinen
gesagt worden ist, gilt von ihnen; ja, es bewährt
sich an ihnen gerade recht auffallend, und ihr
Inhalt, so verschiedenartig er auch seyn mag, beweiset
dieses. Wenn ein verzauberter Kaiser auf seiner verfallnen
Burg sich bald einem alten Bergmann, bald
einem armen Hirten wohlthätig offenbart; wenn ein
fleißiger Köhler in seinem Meiler plötzlich einen reichen
Schatz ausgeschmolzen findet, der ihm zur Herzogswürde
verhilft; wenn wunderbare Bergfräulein
Kleinodien verschenken; wenn ein armer Schäfer
Goldhöhlen entdeckt, und wenn wohlthätige Zwerge
zu Hochzeiten dienstfertig das Tischgeschirr herleihen:
wer erkennt nicht in allen diesen freundlichen
Mährchen die erlaubten und nicht hoffnungslosen
Wünsche bedrängter, um den Unterhalt des Lebens
oftmals besorgter Menschen? Wenn aber die Burg
eines grausamen Raubrittes von der Erde verschlungen;
wenn ein unersättlicher Jäger bis zum jüngsten
Gericht fortzujagen verdammt wird; wenn ein habsüchtiger
Edelmann, der Schätze heben will, die ihm
nicht bestimmt sind, dabei elendiglich zu Schaden
kommt; wenn verbrecherische Mönche mit ewiger
Unruhe bestraft werden; und selbst wenn ein schelmi-
scher Berggeist die kleineren Unbilden des Lebens
scherzhaft, aber derb berichtigt oder bestraft: zeigt
sich dann in diesen ernsteren oder heiteren Sagen
nicht neben dem stillen Unmuth über die ungerechten
Ungleichheiten des Lebens auch das tröstende Vertrauen
auf eine höhere ausgleichende Gerechtigkeit?
Oder wenn ein kluger und mächtiger, aber übermüthiger
König endlich in Ketten und Banden geschlagen
wird; wenn in den Pallästen der Fürsten und Großen
eine weißverschleierte Ahnfrau Jahrhunderte hindurch
Unglück weissagend umherwandelt; wenn eine Riesentochter,
mit ihrer goldenen Krone auf dem Haupt,
den drei Mal wiederholten frevelhaften Sprung über
die grause Felsenschluft mit ihrem Leben bezahlt, und
eine arme Jungfrau dagegen, die, von einem frechen
Jäger verfolgt, sich den Felsen hinabstürzt, unbeschädigt
von den Engeln in die Tiefe getragen wird: scheinen
solche Erzählungen nicht auf das Mißliche und
Gefahrvolle der irdischen Hoheit hinzudeuten, und
das Lob der unbekannten Niedrigkeit mit dem Troste
der überall verbreiteten göttlichen Hülfe zu enthalten?
Und wenn endlich wohlbekannte nahgelegene Felsen,
Wälder, Hügel, Thäler und Quellen mit wunderbaren
Bewohnern bevölkert, oder durch seltsame Begebenheiten
und Abenteuer aus lange verflossenen Zeiten
merkwürdig erscheinen, strahlt dann nicht ein Theil
ihres Rufes auch auf die Anwohner zurück, und giebt
ihnen selbst einen wundersamen Anstrich, oder setzt
sie wenigstens mit einer geheimnißvollen Vorzeit in
ehrenvolle Verbindung?
Und so wandeln dann alle diese seltsamen Sagen
und Mährchen neben dem mühseligen und einförmigen
Leben des beschränkten, gedrückten und belasteten
Volks freundlich, tröstend, hülfreich und oftmals
erhebend einher, und helfen die wenigen Stunden verkürzen
und erheitern, welche dem harten Dienste der
Nothdurft abgewonnen worden sind. Gutmüthige
Mütter aber übernehmen das dankbare Geschäft der
Dichter, indem sie entweder den überlieferten Stoff
nach ihrer Art bald mehr bald weniger ausführlich
und lebendig darstellen und ausschmücken, auch wohl
verändern und umgestalten, oder aus eigener Erfindung
und gelegentlicher Veranlassung neue Erzählungen
hinzufügen. Und diese Bewandniß nun scheint es
überall mit den Volkssagen anjetzt zu haben. Ich
sage: a n j e t z t , wo ein so auffallendes Mißverhältniß
in Bildung, Ansichten und Sitten unter den einzelnen
Theilen derselben Nation Statt findet. In alter Zeit
freilich, als das sogenannte Wiederaufleben der antiken
Kultur noch nicht dem einen Theile der Nation
den bevorzugten Namen des gebildeten beigelegt
hatte; mag auch kein großer Unterschied zwischen
Volksdichtungen und der Poesie der höheren Stände
gewesen seyn. Dieselben Sagen und Erzählungen, von
welchen sich Fürsten und Ritter angezogen und erfreut
fühlten, ergötzten auch den Knappen und den
Knecht, und die Lieder und Gesänge, welche in
Schlössern und Burgen ertönten, hallten in Häusern
und Hütten wieder, so, daß in jener vollständigern
Zeit Volkssagen schwerlich in dem Sinne angetroffen
werden möchten, worin hier versucht worden ist, ihr
Wesen und ihre Bedeutung zu beschreiben und zu erklären.
Volkssagen also machen die Poesie des Volkes
aus, und, indem dieses hier hat sollen gezeigt werden,
ist auch die mögliche
Zweite Frage:
Woher stammen die Volkssagen? und wo sind
sie zu Hause?
schon vorläufig mit beantwortet worden.