Название | Die Sagen und Volksmärchen der Deutschen |
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Автор произведения | Friedrich Gottschalck |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783750214132 |
Volksmährchen entstehen zu sehen, die vielleicht für
Deutschland dasselbe werden könnte, was L e -
g r a n d ' s Sammlung für Frankreich ist: eine Sammlung
von historisch-romantischen Erzählungen nicht
bloß zur Unterhaltung in den Stunden der Muße, sondern
auch für den Menschenbeobachter und den philosophischen
Geschichtsforscher. Daß hierbei manche
Sage mit unterlaufen wird, die eben kein Dichtergeist
belebt, die sich nicht durch charakteristische Züge
auszeichnet, ist gewiß, aber bei dem mir vorgesteckten
Ziele nicht wohl zu vermeiden.
Da jede Volkssage an Eigenthümlichkeit verlöre,
und die wenigen historischen Goldkörner, die sie vielleicht
besitzt, rein verflüchtigt würden, wenn man sie
nicht in der Sprache des Volks, mit Vermeidung aller
fremdartigen Zusätze und ohne eine willkürliche Ausdehnung,
geben wollte, so müssen auch diese Rücksichten
durchaus beachtet, und niemals verlassen werden.
Sie sollen daher in der ihnen eignen schmucklosen
Sprache und möglichst so, wie sie unterm Volke
lauten, erzählt werden, und wer mir einen dankenswerthen
Beitrag liefern will, den bitte ich, dieß nicht
zu vernachlässigen. Durch fremdartige Zusätze, durch
weiteres Ausdehnen, durch eine romantische Bearbeitung,
würde die Erzählung vielleicht an Unterhaltung,
aber nur auf Kosten der Originalität, gewinnen, und
das wäre meiner Absicht und der guten Sache ganz
entgegen.
Wie sehr ich auch überzeugt bin, daß echte Volkssagen,
durch eine zweckmäßige Anordnung – sie sey
nun auf die Zeitfolge oder auf die Oertlichkeit gegründet
– für den Forscher an Werth gewinnen würde, und
so gern ich diesen Forderungen entsprochen haben
möchte, so stellen sich jedoch eine Menge von Hindernissen
der Ausführung entgegen, die schwerlich
ganz zu beseitigen seyn dürften. Die Entstehungsperiode
eines Mährchens aufzufinden, gelingt höchst selten,
und auch dann nur in so weit, daß man ungefähr
das Jahrhundert, aus dem es hervorging, anzugeben
vermag. Nur von denen, worin eine historisch bekannte
Person auftritt, z.B. Kaiser Friedrich II., der in den
Mährchen vom Kiffhäuser die Hauptrolle spielt, läßt
sich mit etwas mehr Wahrscheinlichkeit dem Ursprunge
näher kommen. Bei dem bei weitem größten
Theile ist jede Nachforschung durchaus vergebens,
und die Idee einer chronologischen Anordnung bleibt
daher ein unausführbares Beginnen.
Mit weniger Hindernissen würde eine Anordnung
nach Gegenden, nach Ländern verknüpft seyn, und
wem es vergönnt wäre, alle die Gegenden, wo Volkssagen
vorzüglich zu Haus sind, selbst, und in der Absicht
zu ihrer Aufsammlung genau durchstreichen zu
können, dem dürfte es vielleicht gelingen, sie alle aufzufinden;
allein, wer kann das? Und wenn es Jemand
könnte, so würde ihm doch wohl, selbst bei der größten
Sorgfalt, manches Mährchen entschlüpfen. Wenn
es nun auf diese Art nicht möglich ist, den Zweck der
Vollständigkeit zu erreichen, so wird es auch durchaus
auf keine andere möglich seyn. Für mich geht
hieraus die Ueberzeugung hervor, daß eine chronologisch
oder nach Länderbezirken geordnete vollständige
Sammlung der deutschen Volksmährchen so lange
noch ein unerreichbarer Wunsch bleiben wird, bis von
vielen Seiten her zusammengetragen ist, und alsdann
der künftige Freund unserer vaterländischen Volksdichtungen
sie in chronologischer oder geographischer
Form aufzustellen vermag.
Ueberhaupt scheint es mir, als ob man den Volksmährchen
einen größern historischen Werth beilege,
als sie wirklich besitzen. Wer mit mir dieselbe Ansicht
hat, und sie mehr von Seiten der Unterhaltung
nimmt, der wird es daher weniger mißbilligen, wenn
ich hier Mährchen, Sagen und Legenden gebe, ohne
eine besondere Ordnung zu beobachten, und so wie
ich sie auffinde und erhalte. Am Schlusse der Sammlung
kann immer noch durch verschiedene Classificationen
dem Wunsche derer entsprochen werden, welche
mit dieser regellosen Aufstellung nicht zufrieden
seyn möchten.
Woher ich jedes Mährchen nahm, woher ich es erhielt,
das werde ich immer eben so genau angeben, als
wo es sonst schon erzählt, wo es vielleicht schon poetisch
oder romantisch bearbeitet wurde.
Wer über die Bedeutung, über den Werth, über die
Quellen und über die Veranlassung zur Entstehung
der Volkssagen Aufschlüsse verlangt, den kann man
mit Recht auf die gehaltvollen und durchdachten Abhandlungen
verweisen, welche N a c h t i g a l in Halberstadt
seinen »V o l k s s a g e n , n a c h e r z ä h l t
v o n O t m a r « (Bremen 1800. 8.) vorangeschickt
hat, und welche diese Gegenstände in ihrer Art ausführlich
und ernsthaft behandeln. Zugleich aber kann
ich mir nicht versagen, hier auch den folgenden Bemerkungen
noch einen Platz anzuweisen, welche mein
geschätzter Freund, der Hofrath B e c k e d o r f f , als
eine, hoffentlich nicht unwillkommene, Zugabe zu
diesem ersten Bändchen, mir mitzutheilen die Güte
gehabt hat.
Ballenstedt, den 18ten Oct. 1814.
F . G o t t s c h a l c k .
Gesetzt, es gäbe Jemanden, welcher Volksmährchen
zu hören oder zu lesen ein besonderes Vergnügen
fände, – worin er denn allerdings sehr Recht haben
würde – welcher aber sich nicht begnügen wollte,
dem bald heitern, bald ernsten, bald muthwilligen,
bald schauderhaften, immer aber anziehenden Eindrucke