Der Tanz der Heuschrecken. Ulrich Fritsch

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Название Der Tanz der Heuschrecken
Автор произведения Ulrich Fritsch
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738021479



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Portugal an die Algarve, nach Marokko, wo sie auf den Golfanlagen um Mar­rakesch Entspannung suchten, nach Kalifornien, Florida oder an die Costa del Sol. Dieser Blick über die Ferienparadiese, das genüssliche Wandern mit den „Swinging Clubs“ – das war Erholung und Freiheit pur. Für beide der schönste Sport der Welt, der über kurz oder lang die breite Masse in seinen Bann schlagen würde, darin war man sich einig. Dann wären allerdings die schönen Zeiten der Beschaulichkeit vorbei, weil Scharen von Freizeitclubs die Inseln der Einsamkeit überflu­ten würden.

      Leon und Anna kannten die Perlen unter den Golfclubs und flogen, wenn es sein musste, bis ans Ende der Welt, um dort Ruhe und Entspannung zu finden. Sie hatten diesen Sport im letzten Jahr weidlich genossen und waren mehr, als es das schleppende Geschäft erlaubt hätte, der Sonne hinterher geeilt. So kam es, dass Leon eines Tages eine sonderbare Entdeckung machte. Er bemerkte an der rechten Backe unter seiner brau­nen Lederhaut ein kleines Geflecht von eigenartigen Punkten und Nestern, die mal hell-, mal dunkelbraun bis schwarz waren und sich wie eine Pigmentverfärbung ausnahmen. Lange Zeit war ihm diese nicht sonderlich auffällige Veränderung auf der Backe zunächst nicht ins Auge gestochen, aber mit der Zeit wurde er doch etwas unruhig, zumal auch Anna diese Stelle immer häufiger ins Visier nahm.

      Der Gang zur Uniklinik sollte Klarheit verschaffen. Der Oberarzt der Hautklinik beruhigte seinen Patienten, schabte die Stelle weg und entließ ihn nach kaum einer halben Stunde mit einem kleinen Pflaster im Ge­sicht. Leon erschrak nicht wenig, als nach zwei Wochen der Chef der Hautklinik bei ihm zu Hause anrief und ihm mitteilte, dass er wahrscheinlich einen bösartigen Tumor hätte. Um sich Gewissheit zu verschaffen, müsse Leon Petrollkowicz erneut zur Entnahme einer größeren Probe in die Klinik kommen. Gesagt, getan. Wieder die Warterei, wieder die Ungewissheit. Diesmal kam schon nach fünf Tagen das Ergebnis des Labors. Leon hatte wiederholt angerufen, wurde in die Klinik bestellt, wartete eine halbe Stunde vor dem OP, bis der Oberarzt her­auskam. Die Tatsache, dass er Leon in ein kleines Behand­lungszimmer bat und nicht schon auf dem Gang den Befund erläuterte, ließ nichts Gutes ahnen. Leon wurde mit knappen Worten mitgeteilt, dass er Hautkrebs hätte. Man sei sich über Level und Dicke des Tumors nicht ganz einig und müsse des­halb schnellstens mit dem gebührenden Sicherheitsabstand die Operation vornehmen. Leon wurde für den nächsten Tag bestellt, dann aber wieder abbestellt, weil der Oberarzt zu ei­nem Kongress nach Barcelona müsse und noch ein paar Tage Urlaub dranhängen wolle.

      Man empfahl Leon einen Hautarzt in der Stadt, der Eingriffe dieser Art brillant ambulant durch­führen könne. Leon wurde abermals malträtiert. Das Ergebnis war erschütternd. An der Peripherie der Schnittwunde zeigten sich, so die Histologie, gefährliche Sprengel des Haupttumors. Eine noch größere Exzision mit Transplantation in einer Kre­felder Spezialklinik sei unvermeidbar. Der Tumormarker war miserabel, alles deutete auf eine Metastasierung hin. Würde Leon überleben? Er überlebte, weil er noch Glück im Unglück hatte. Eine ganze Reihe von Untersuchungen zeigte, dass der Rubikon noch nicht überschritten war. Leon wurde nach drei Wochen als vorläufig geheilt entlassen, mit einem entstellen­den Narbenkranz im Gesicht, dem noch die nötige Durchblu­tung fehlte.

      Leon war niedergeschlagen, nicht nur wegen der Krank­heit. Gerade in dieser Zeit rang seine Firma nach frischem Tatendrang. Da der Chef oft gefehlt hatte und Emma Heng­stenberg dem Dahindümpeln des Unternehmens tatenlos zu­sah, musste er alle Kräfte aufbieten, um das Steuer im letzten Augenblick noch einmal herumzureißen. Aber wie sollte das geschehen? Er hatte zwar einige Ideen, aber noch fehlte ihm der nötige Elan. Zunächst einmal war eine Kur angesagt, dann würde er mit aller Kraft versuchen, neue Aufträge zu erhalten.

      Wochen gingen ins Land. Er hatte viel zur Stärkung seines Immunsystems getan und sich körperlich so weit regeneriert, dass er wieder einigermaßen einsatzfähig war und den laufen­den Geschäften nachgehen konnte. So ganz war er aber nicht auf der Höhe, weil ihn der Gedanke plagte, was denn wäre, wenn er physisch, psychisch und beruflich Schiffbruch erlei­den würde. Wie sollte er seine kleine Crew über Wasser hal­ten? Was sollte er tun, wenn er körperlich wieder fit, geschäft­lich aber am Ende wäre? Könnte er mit seinen journalistischen und künstlerischen Fähigkeiten sein Brot verdienen?

      Immer wieder kam er ins Grübeln, und die Angst, die ihn dabei be­schlich, lähmte seine Arbeitsfreude. Seine Rivalin im Büro genoss dieses labile Gleichgewicht, weil auch ohne weitere Einlassungen ihr Plan aufzugehen schien, Leon Petrollkowicz den Garaus zu machen. Warum aber diese destruktive Einstel­lung von Emma Hengtsenberg? Leon Petrollkowicz war sich allmählich ganz sicher, dass das Manöver gegen ihn nicht nur gestartet wurde, weil er den Herrschaften unbequem wurde, sondern weil man dem Kollegen von Maibohm einen Gefallen tun wollte.

      Als weiteren Gedanken kam ihn, dass Dr. Maibohm einen Job außerhalb der Firma für Emma Hengstenberg suchte, weil Helen Laroche in seiner Gunst stieg. Vorstellbar waren ver­schiedene Versionen. Auch der Gedanke der Geliebtenrocha­de schien nicht zu weit hergeholt zu sein. „Was meinen Sie“, sagte einmal der Vorstand eines Unternehmens zu Leon Pe­trollkowicz, „was sich auf der obersten Etage alles abspielt. Um die Spielgefährtin zu halten, werden oft Unsummen eingesetzt und ganz neue Positionen geschaffen.“

      Leon Petrollkowicz grübelte und grübelte. Er musste jetzt alles tun, um sein Geschäft über Wasser zu halten. Gesund­heitlich ging es gottlob schneller als vermutet bergauf. Immer katastrophaler wurden aber die finanziellen Umstände. Leon hatte einen gewaltigen Unkostenapparat zu bewältigen und in den letzten Monaten sogar sein Privatvermögen zur Sicherung der Firmenkredite einbringen müssen. Wie würde er aus dem Würgegriff der Banken wieder raus kommen, ohne massiv Schaden zu nehmen? Noch hatte er einige Pfeile im Köcher. Besonders Dr. Hüttel durfte ihn nicht im Stich lassen. Eine PR-Kampagne für den Global Player könnte ihn mit einem Schlag von allen Nöten befreien. Dr. Hüttel hatte sich für den Neujahrsempfang des Industrieclubs in Düsseldorf angesagt, und Leon Petrollkowicz könnte ihn spätestens dort unter vier Augen sprechen. Bis dahin müsste er alle Kräfte sammeln, um die Firma wieder auf Kurs zu bringen. In dieser schwie­rigen Situation half ihm am meisten sein Mitarbeiter Martin von Alzheim. Sie gingen beide immer wieder die verfahrene Geschichte durch und arbeiteten an Modellen zur Krisenbe­wältigung. Man wollte sich mit allen Mitteln dem Schicksal entgegenstemmen.

      Eines Tages klingelte es Sturm an seiner Wohnungstür. Anna öffnete, musste ein amtliches Schreiben entgegennehmen und quittieren. Sie legte es ihrem Mann auf den Schreibtisch. Als Leon Petrollkowicz abends heimkam und in sein Arbeitszim­mer ging, starrte er ungläubig auf den Absender „Amtsgericht Neuss“. Er öffnete den Brief. In ihm stand lapidar, dass nach einer bestimmten Frist seine Eigentumswohnung zwangsver­steigert würde.

      Dies war für Leon Petrollkowicz der Anfang vom Ende. Wie konnte das passieren? Im letzten halben Jahr zeichnete sich das Fiasko zunächst überhaupt nicht ab, dann höchstens als Gewitterwolken am Horizont. Er hatte Freunde bei den Banken, in der Industrie, die immer wieder auf ihn zukamen und ihm größere oder kleinere Aufträge gaben. Man schätzte seine Expertise und seine Offenheit, die immer auch zugleich Unbestechlichkeit signalisierte. Warum hat man ihn plötzlich fallen lassen? Seitdem diese Emma wie eine bösartige Glucke um sich biss und ihn offenbar aus der Bahn zu werfen versuch­te, gelang ihm nichts mehr. Und hinter dieser Frau steckte Dr. Maibohm, der irgendetwas gegen ihn im Schilde führte. Nicht aufgeben, sagte er sich immer wieder. Bald würde er Dr. Hüttel treffen. Ein einziger PR-Auftrag von CAR für seine Fir­ma könnte alles zum Guten wenden. Dann bräuchte er nicht mehr die Bank von Maibohm und könnte die unangenehme Intrigantin endlich an die Luft setzen. Was sollte er aber ma­chen, wenn es nicht klappte?

      Leon Petrollkowicz hatte, wie gesagt, mehrere Professionen: Er war als Medienfachmann ein angesehener Mittelständler; er war Journalist und Publizist und könnte sich zur Not beim Rundfunk oder irgendeiner Zeitung verdingen. Die Zeichen der Zeit standen aber nicht für alle Branchen auf Prosperität. Eine schwache Regierung und eine schwächelnde Weltkonjunktur hatten das Land stark gebeutelt. Durch einen immer schmaler werdenden Annoncenteil gerieten viele Zeitungen zunehmend in eine Schieflage. Sie entließen Redakteure und stellten keine neuen ein. Was sollte er sich hier erhoffen?

      Blieb die Kunst, die brotlose Kunst. Leon Petrollkowicz hatte die letzten zehn Jahre keinen Urlaub gemacht, sondern war an die Sommerakademie nach Salzburg gegangen. Dort hatte er mit vielen Künstlern zusammengearbeitet,