Название | Ein Fall von großer Redlichkeit |
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Автор произведения | Peter Schmidt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847657316 |
„Worauf spielen Sie an?“
Der andere überging seine Frage. „Wir werden in den nächsten Wochen gelegentlich miteinander zu tun haben. Neben Julia bin ich Ihr zweiter Kontaktmann. Sie können sich mit allen Problemen oder Beschwerden an mich wenden.“
„Sind Sie mein unmittelbarer Vorgesetzter an der Universität?“
„Nicht direkt.“
„Wann werde ich ihn sehen?“
„Nachmittags. Wenn Sie Ihren Vertrag unterschreiben. Unsere Republik will jedem Neuankömmling die Eingliederung erleichtern. Dazu werden solche Kontaktleute wie ich eingesetzt.“
„Was ist mein erstes Arbeitsgebiet?“
Felder schien diese Frage erwartet zu haben. Er legte ein maschinengeschriebenes, etwas vergilbt aussehendes Manuskript im DIN-A4-Format auf den Tisch.
„Da Sie mit unserem System sympathisieren, sind Sie sicher auch in seiner Geschichte bewandert. Sie erinnern sich, dass Lenin, als er aus sibirischer Verbannung kam, unter dem falschen Namen Meier in München lebte und dort die erste Nummer der Iskra – auf deutsch ‚Der Funke’ – herausgab?
Neben dieser nach Russland geschmuggelten neuen Zeitung sozialistischen Typs verfasste er, was wenig bekannt ist, einige kurze politische Schriften in deutscher Sprache, von denen in unseren Archiven Kopien maschinengeschriebener Manuskripte existieren. Sie wurden in Lenins Auftrag von verschiedenen Mitarbeitern nach seinen handgeschriebenen Manuskripten angefertigt und sollten unter deutschen Sozialdemokraten verbreitet werden. Lenin wohnte damals bei einem sozialdemokratischen Gasthausbesitzer namens Rittmaier, ehe er in eine Mietskaserne nach Schwabing umzog.
Es war kurz vor der Abfassung seiner bekannten Schrift ‚Was tun?’, und viele Gedanken finden sich bereits in diesen vorausgehenden Arbeiten. Sie können sich denken, dass sie für die Geschichte des Sozialismus von allergrößter Bedeutung sind.
Wir halten es für möglich, dass der Schwiegersohn Rittmaiers – angeblich treuer Sozialdemokrat, in Wirklichkeit aber ein eingeschleuster Spitzel – eine Fälschung verfasste, die viele abweichende und verzerrende Meinungen enthält, da er zu dieser Zeit ebenfalls an den Manuskriptabschriften arbeitete.
Ihr Titel ist ‚Die Basis der sozialistischen Revolution’.“
Felder tippte auf den Stapel Papiere vor sich.
„Es dürfte schwierig, aber für Sie als einen Experten im Sprachvergleich nicht unmöglich sein, an Hand anderer deutschsprachiger Schriften Lenins – wie z. B. „Das Militärprogramm der proletarischen Revolution“ von 1916 – nachzuweisen, dass Lenin nicht der Verfasser sein kann.“
Er schwieg und musterte Papst erwartungsvoll.
„Leider ist die Lösung des Problems nicht inhaltlich, sondern nur auf der Grundlage von Sprachstrukturen denkbar. Wir nehmen an, dass Ihre Methode dazu die geeignetste ist.“
„Sie haben sehr lange für diesen Verdacht gebraucht.“
„Oh – die Frage stellt sich uns natürlich seit vielen Jahren. Es war bisher nie möglich, den exakten wissenschaftlichen Nachweis zu führen. Deshalb schätzen wir Ihre Mitarbeit in unserer Republik ganz besonders.“
Er reichte ihm das Manuskript. „Und dies ist eine Liste aller in Frage kommenden Vergleichsschriften. Ich möchte Sie nur bitten, die Arbeit vertraulich zu behandeln, weil ihre Veröffentlichung zu Missverständnissen in den Auffassungen Lenins führen könnte.“
„Und Julia?“, fragte er.
„Ist eingeweiht …“
„Haben sich schon andere Experten damit befasst?“
„Von der inhaltlichen Seite, ja. Dr. Alfons Margott, der bekannte marxistische Theoretiker und einige russische Fachgelehrte, die des Deutschen genügend mächtig sind. Sie gelangten zu keiner eindeutigen Stellungnahme. Verstehen Sie uns richtig! Wir sind immer davon überzeugt gewesen, dass es sich um eine Fälschung handelt, aber dieses Urteil ist eher intuitiver Natur.
Wladimir Iljitsch kann seine Ansichten nicht innerhalb weniger Wochen derart geändert haben. Es war ein konterrevolutionäres Störmanöver. Weisen Sie es durch sprachvergleichende Untersuchungen nach. Ein Platz in der Literaturgeschichte dürfte Ihnen sicher sein.“
„Man sagte mir, das Denken nach solchen Gesichtspunkten sei hier verpönt?“
„Unsere beiden Bruderstaaten sind nicht so weit voneinander entfernt, wie man immer glaubt. Sie werden manche Gemeinsamkeiten entdecken.“
Er lächelte breit und strich wieder über seine Schneidezähne.
„Im Guten wie im Schlechten. Denken Sie nur an die menschlichen Erleichterungen der letzten Monate …“
Felder reichte ihm die Hand, um ihn zu verabschieden. Papst hätte sich gern nach seiner genauen Funktion an der Universität erkundigt. Doch da er nicht ausschloss, dass man irgendeinen verdienten Funktionär der Partei zu seiner Betreuung abgestellt hatte, unterließ er die Frage.
Julia wandte ihm den Rücken zu, als er wieder im Gang war. Sie sah auf das angebaute Magazin der Bibliothek hinaus. Es wirkte wie ein überdimensionaler, auf die Seite gelegter Container und überragte mit seinen glatten, fensterlosen Fassaden aus Kunststoff das Dach des Hauptgebäudes. Ein Gang in der ersten Etage verband es mit dem altertümlichen Hauptteil. Dahinter war, zwei Straßen entfernt, die vergoldete Turmspitze der russischen Gedächtniskirche zu sehen.
„Nun?“
„Meine erste Arbeit“, sagte er und schlug auf die Mappe unter seinem Arm.
„Dann lass uns jetzt zum Essen gehen. Um zwei unterschreibst du deinen Vertrag an der Universität.“
Sie fuhren mit der Straßenbahn ins Zentrum. Man musste sich die Streifenkarten vor Antritt der Fahrt besorgen, aber Julia hatte vorgesorgt.
Es war ein Lokal in der Nähe des Alten Rathauses. Obwohl man einen Tisch für sie reserviert hatte, ließ das Essen auf sich warten, und während Julia in den Waschraum ging, blätterte Papst ein wenig in dem Manuskript.
Offenbar war es keine Kopie wie die Vergleichsarbeiten und schon sehr alt: Flecken, Eselsohren und vergilbtes Papier deuteten darauf hin, dass es zwei Weltkriege überdauert hatte.
Ein wenig wunderte es ihn, dass man ihm ein historisches Dokument ohne weitere Vorbehalte überließ. Felder hatte ihn nicht einmal dazu angehalten, besonders sorgsam damit umzugehen, wenn man Von seiner Befürchtung absah, es könnte in der Öffentlichkeit ein falsches Bild Lenins erzeugen.
Einige Korrekturen waren handschriftlich mit schwarzer Tinte hinzugefügt. Natürlich ist es nichts wert, wenn es sich um eine Fälschung handelt, dachte er. Und davon gehen sie aus. Die Arbeit reizte ihn; aber er hatte es sich Felder gegenüber nicht anmerken lassen.
Nachdem Papst an der Universität seinen Vertrag unterschrieben hatte, verspürte er wenig Lust, noch einmal in die Bibliothek zurückzukehren. Julia bestärkte ihn darin, dass der erste Arbeitstag in Ruhe und Zerstreuung zugebracht werden müsse; alles andere sei ein schlechtes Vorzeichen.
Schröder hatte ihn ebenfalls dazu ermuntert. Er war stark übergewichtig, ein gemütlicher Mann, der jedes Kleidungsstück anfertigen lassen musste, und Papst hätte sich keinen besseren unmittelbaren Vorgesetzten wünschen können.
„Sehen Sie sich die Stadt an. Ihre Arbeitszeit in der Bibliothek halten wir flexibel. Außer samstags und sonntags ist der Lesesaal bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet. Selbstverständlich können Sie auch abends arbeiten.“
Er schien ihm die Arbeit in den Abendstunden geradezu aufdrängen zu wollen.
„Im Übrigen kontrolliert Sie niemand.“
Das Hauptgebäude der Universität war in einem Hochhausturm untergebracht, einem einseitig