Название | Die Regeln der Gewalt |
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Автор произведения | Peter Schmidt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847654728 |
«Konnten Sie‘s denn nicht in Ihrer Pension erfahren?», fragte das Mädchen.
«Oh, ich … ich habe noch gar kein Quartier, ich bin sozusagen noch ohne – ja, ohne jede Disposition.»
«Merkwürdiger Ausdruck dafür, dass Sie nicht wissen, wohin», sagte das Mädchen.
«Warengeschäfte. Da schlagen immer die alten Ausdrücke durch.»
«Sind Sie Vertreter?»
«So was Ähnliches.»
Sie aßen schweigend.
«Drüben im Gloria läuft ein netter Film, etwas Leichtes. Mit einem französischen Komiker. Dieser kleine Kerl, der immer Grimassen schneidet. Den Titel habe ich leider vergessen.»
«Genau, was ich suche.» Werders löffelte weiter seinen Eintopf. «Und es ist in der Nähe?»
«Schräg über die Straße», sagte sie.
«Darf ich Sie vielleicht einladen? Ich meine – sozusagen, um mich für Ihre Hilfe zu revanchieren? Ganz unverbindlich. Sie gehen keinerlei Verpflichtungen ein. Es ist nur … ja, wenn man fremd ist in einer Stadt, sucht man nach ein wenig Gemeinsamkeit.»
«Gern», sagte Sie zu seiner Überraschung und stand auf. «Lassen Sie uns gehen …»
Er zahlte an der Theke die beiden Terrinen, und sie ließ es ohne Protest zu.
«Danke, dass Sie sich meiner annehmen wollen», sagte er, während er sich draußen bei ihr einhängte.
«Sie brauchen sich nicht zu bedanken. Ich war einfach in der Laune dazu – beruflicher Ärger.»
«Ja, das kenne ich. Vorgesetzte?»
«Man weiß nie, wie man es ihnen recht machen soll …»
«Überall das Gleiche. Niemandem kann man es recht machen.»
«Wem sagen Sie das?»
«War es so schlimm?»
«Eben kam ein Anruf – bitte verstehen Sie, dass ich nicht über Einzelheiten reden kann, es handelt sich um Geschäftsgeheimnisse –, und gewöhnlich werden wir nur von gut bekannten Geschäftspartnern angerufen. Es kommt praktisch nicht vor, dass sich jemand ohne seine Kennzahl meldet – wir haben alle Kontakte der Einfachheit halber unter Kundennummern abgelegt», fügte sie schnell hinzu.
«Kenne diese Praktiken», nickte er. «Rationalisierung, oder?»
«Aber der Anruf nachmittags kam von einem Fremden. Ich war etwas verwirrt, es … es war eine ungewöhnliche Situation – deshalb gab ich ihn weiter.»
«Völlig verständlich», bestätigte er.
«Und was glauben Sie, welchen Ärger mir das eingetragen hat?» Sie blieb stehen und wandte sich mit geballten Fäusten um. Ihr Gesicht war rot vor Zorn.
«Fräulein Tauber…»
«Ihre Vorgesetzte?»
«Ein Biest», nickte sie. «Der Anweisung nach hätte ich antworten müssen mit: Hier OLCO-Osthandelsgesellschaft Leipzig, Zweigstelle Heidelberg. Sie meinte, sonst würden wir uns ja lächerlich machen, schließlich stehe unser Name außen am Haus, und es bedürfe keinerlei Rückfrage mehr. Alte Jungfer!
In gewisser Weise hat sie natürlich Recht», fügte sie nüchtern hinzu.
Den Film fand er langweilig: Opium fürs Volk. Eine Folge aus Blödeleien, um von Missständen abzulenken. Keine kritischen Töne.
In seiner Jugend hatte er solche Schmarren verschlungen …
Bis er erwachsen genug geworden war, um zu entdecken, dass man diesen Staat ganz anders sehen konnte, als er vorgab zu sein: statt ein Hort der Demokratie und Liberalität ein subtiles Repressionssystem zum Erhalt von Wirtschafts- und Machtstrukturen.
Verdummung der Armen und Auszubeutenden. Freiheitsdemokratie: vor der Wahl Versprechungen, nach dem Wahltag Verteilung der Beute – und gegen Andersdenkende Polizeiknüppel. Staatliches Gewaltmonopol. Die Katze im Sack gewählt, Blankoschecks ausgestellt.
Man warf ihnen ein wenig Futter hin – «gehen Sie doch alle vier Jahre wählen, wir bitten schön darum» – und kam dann zur Sache, was das Verkungeln der Posten anbelangte. Vorteilsannahme über Wirtschaftsgruppen und Konzerne, Interessenvertretung unter dem Deckmantel der Demokratie, Verschärfung des Demonstrationsrechts, eine noch dreistere Tendenz zum Bespitzelungsstaat wie in den neuen Volksbefragungen, die Computerisierung vertraulicher Daten, Rechtsprechung von der persönlichen Finanzkraft abhängig – und sie saßen hier und sahen sich diesen blödelnden Film an.
Ihr schien er zu gefallen. Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust, und ihre Finger kraulten seinen Nacken. Eigentlich kämpften sie ja gegen den gleichen Feind: auch wenn sie nur eine ganz kleine Büroangestellte in ostdeutschen Diensten war.
«Sag mal», raunte er ihr zu, «eure Firma sucht nicht etwa noch Leute, oder?»
«Unsere … Firma?», prustete sie. «Nein.»
«Ich meine, drüben vielleicht. Bei dir in Leipzig.»
Er legte seinen Arm um ihre Schultern. «Du kehrst doch mal zurück, hab ich Recht? Hab‘s ziemlich satt hier im Westen. Ehrlich gesagt, wegen des Systems.»
«Ziemlich bald sogar, in zwei Monaten.»
«Würde jede Tätigkeit drüben annehmen – »
«Wirklich jede?»
«Jede.»
«Hm. Es gibt da gewisse Aufträge.»
«Mir ist alles recht.»
«Heikle Aufträge, meine ich …»
«Kann gar nicht hoch genug hergehen – nach dem öden Verkaufstrott hier in den letzten Jahren.»
«Auch Arbeit in der BRD?»
«Warum nicht?»
«Tja, weißt du … ich könnte mal mit einem der Herren sprechen – ganz unverbindlich natürlich –, ob sie noch für jemanden wie dich Verwendung hätten.»
«Das wäre riesig nett.»
«Wo kann man dich denn erreichen?»
«Zur Zeit bin ich unterwegs. Ich würde nächste Woche wieder herkommen und dich abholen.»
«Das würdest du wirklich tun?»
«Ehrenwort, ja. Wieso denn nicht?» Er sah sie fragend an – bis sie leicht errötend seinem Blick auswich ...
Als sie sich gegen elf trennten, wusste er, dass sie Eva Menge hieß und nichts anderes tat, als für einen Hungerlohn am Telefon codierte Nachrichten anzunehmen, was unschwer aus der seltsamen Art herauszulesen war, wie ihre Meldungen hereinkamen: mit einer Nummer zur Kennzeichnung des Agenten und einer sogenannten «Bestellung», die dann etwa lautete:
«Ersatzteil Nummer 050/277, Eisenguss, Vanadiumachse, Chromlager, für Werkzeugmaschine Typ «Lerche», mit Zahnkranz 18/8, Lieferung Oktober 83, Kombinat Karl-Marx-Stadt» – und eine Bedeutung hatte, die sie natürlich ebenso wenig kannte wie jemand, der zufällig oder aus Gewohnheit ihre Leitung abhörte: Agenteneinschleusungen, Termine für Kurierdienste, Warnungen oder dergleichen.
Immerhin hatte er genug erfahren – wenn auch nichts über Walters Pläne.
Werders nahm den letzten Bus. Er stieg eine Station früher aus, wo lediglich Zugang zum Bootshaus an einem Altarm des Flusses war, der im Osten hinter den Ackerwellen lag, und ging das Stück zu Fuß.
Die Straße war menschenleer. Nirgends Autos, Hubschrauber, kein Geräusch aus Funksprechgeräten, auch nicht in der Ferne. Selbst die Vögel schienen