Die Freistaaten. Jens Zielke

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Название Die Freistaaten
Автор произведения Jens Zielke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738089738



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sein.“

      Frankfurt am Main | 21 Uhr

      Dana hatte sich vor einem Kaufhaus an der Frankfurter Hauptwache eingefunden. Nicht weit von ihr, an einer Rolltreppe, grölte eine Gruppe vierzehn- bis siebzehnjähriger Jungen und Mädchen. Das war aber normal geworden, mittlerweile gehörte die Anwesenheit von betrunkenen Jugendlichen zum Alltag. Sobald die Sonne unterging, bemächtigten sich schwankende Teenager der öffentlichen Plätze. Oftmals sorgten sie für Gewaltexzesse. Unwillkürlich musste Dana an den Frankfurter Polizeisprecher denken. Vor vier Wochen war er durch seine Wut Rede berühmt geworden.

      „Stück für Stück übergeben wir Deutschlands Straßen dem rechtsfreien Raum. Was muss eigentlich noch geschehen, damit die Politik endlich reagiert.“ Zehn Minuten hatte der Polizeisprecher über die für die Polizei unerträglich gewordenen Zustände geschimpft. Eine Zeitlang war seine Rede sogar in Raserei übergegangen. Die Geschehnisse des Vortages hatten für diesen verbalen Ausbruch gesorgt. Drei Polizisten waren am frühen Abend zu einem Juwelier beordert worden. Ein anonymer Anrufer hatte einen Überfall gemeldet.

      Im Hinterhof des Juweliers wurden die drei Polizisten aber selbst Opfer eines Überfalls. Zehn junge Männer hatten ihnen aufgelauert und nur dem rechtzeitigen Eintreffen weiterer Einsatzkräfte war es zu verdanken, dass dieser unerhörte Angriff, der alleine der Staatsmacht gegolten hatte, relativ glimpflich ablief. Mehrere Warnschüsse waren aber nötig um die Täter zur Aufgabe zu bewegen. Dieser geplante Übergriff auf deutsche Polizisten hatte aber dafür gesorgt, dass bei dem Polizeisprecher alle Dämme brachen.

      „Wenn wir unsere Polizisten nicht mehr schützen können, können wir nicht von ihnen verlangen, dass sie uns schützen. Die Politik muss endlich eingreifen.“ Und unter dem Applaus seiner Kollegen hatte der Polizeisprecher das Mikro gepackt und mit den Worten „Das sind alles ignorante, arrogante Nichtskönner“ hatte er das Mikro auf den Tisch geworfen. Der Applaus hatte ihm aber nichts genutzt. Die Politiker des Landes handelten diesmal zügig. Sie beorderten ihn, der den Menschen nur aus der Seele gesprochen hatte, in den Vorruhestand. Seine Äußerungen waren ihnen zu gefährlich. Keiner wollte ihm Recht geben und sich die Finger verbrennen. Bloß nicht in den Verdacht geraten, zu rechts zu sein, war ihre einzige Sorge.

      Gelähmt mussten die um Deutschlands innere Sicherheit kämpfenden Beamten so feststellen, dass sie mit ihren Problemen alleingelassen wurden.

      Von Carstheims Erscheinen auf der politischen Bühne hatte dieser Lähmung aber zumindest im Süden ein Ende bereitet. Die über Jahrzehnte verärgerten süddeutschen Bürger waren mittlerweile aber davon überzeugt, dass er und die Ministerpräsidenten die seit Ewigkeiten verheimlichten Probleme des Landes angehen würden. Die klaren konservativen Vorstellungen der Sezession kamen gerade durch diese Vorfälle beim arbeitenden und arbeitswilligen Teil der Bevölkerung gut an. Die hatten nämlich genug von den Versprechungen der Berliner Parteien, dass alles gut werden würde. Dieser Traum war sowieso an der neuen, alles einnehmenden asiatischen Wirtschaftsmacht zerschellt und die arbeitslosen Bürger und Hartz IV Empfänger waren zum größten Wählerblock geworden. Deutschland jedoch war das Geld ausgegangen, um die Menschen ruhig zu stellen. Immer mehr Politiker des Südens schlossen sich deswegen von Carstheim an. Zusammen mit ihm wollten sie die Wattebäuschchen wegwerfen und den Wirtschaftskrieg zu Europas Gunsten wenden. Für sie war Deutschland zu schwerfällig geworden, um weiterhin eine Vorreiterrolle einzunehmen. Ein wirtschaftlich gesunder, entschlossener und politisch wendiger Süden hingegen, könnte Europa wandeln und mitreißen, erklärten sie in jedes Mikrofon.

      Am Ende ihrer Gedanken stellte Dana den Kragen ihres Mantels hoch. Sie spielte mit dem Feuer. Sich mit dem Mann zu treffen, der seit einigen Tagen der erklärte Todfeind der Bundesrepublik Deutschland war, könnte ihr politisches Ende bedeuten. Aber ungeachtet der Gefahr loderte in ihr das Verlangen, von Carstheim zu treffen. Er hatte sie beeindruckt und das, obgleich sie einer Unzahl von mächtigen Männern begegnet war. Seine Mischung aus Charisma und innerer Überzeugung hatte sie allerdings noch bei keinem Wirtschaftsboss oder Top-Politiker erlebt. Meistens wurden die von einem ruhelosen Geist angetrieben.

      Abweisend sah Dana sich jetzt um, jemand hatte ihr auf die Schulter gefasst. Sie rechnete damit, dass einer der betrunkenen Teenager Geld oder eine Zigarette von ihr wollte.

      „Frau Engelhard?“

      Ein circa sechzig Jahre alter grauhaariger Mann lächelte sie an und lupfte seine Chauffeurmütze.

      „Ja?“ Dana erwiderte das Lächeln.

      „Mein Name ist Karl. Ich bin Ihr Fahrer. Herr von Carstheim schickt mich.“

      „Woher wussten Sie, dass ich es bin.“

      „Herr von Carstheim hat mir ein Foto von Ihnen mitgegeben. Er betonte, dass es ihm wichtig sei, dass ich Sie unter Tausenden erkenne.“ Karl behielt das Lächeln bei und öffnete die Fond-Tür eines schwarzen BMW. Dana behielt ihrerseits das Lächeln bei und stieg ein.

      „Sind Sie schon lange Fahrer bei Herrn von Carstheim?“, fragte sie, als Karl sich ans Steuer setzte.

      „Seit über dreißig Jahren chauffiere ich die von Carstheims. Ich habe den Herrn Freiherr schon zu Schulausflügen gefahren“, sagte Karl nicht ohne Stolz.

      „Nicht losfahren.“ Dana hatte es sich anders überlegt. Sie wollte Karl vom Beifahrersitz aus über von Carstheim ausfragen. Sie stieg wieder aus und unsicher blickte Karl sich nach ihr um und erst als sie in der Beifahrertür erschien und sich neben ihn setzte, beruhigte er sich.

      Sie schwang sich in den Sitz.

      „Ich darf Sie doch Karl nennen, oder?“

      „Wie die gnädige Frau wünschen.“

      „Danke, so ist es auch leichter, Sie auszufragen.“ Dana packte die Schlosszunge und führte sie vom Umlenker über die Brust.

      „Wir werden die Einfahrt über das Nachbarhochhaus nehmen. Die beiden Gebäude haben eine gemeinsame Tiefgarage. Ist diskreter.“

      „In Frankfurt ist viel Presse.“ Dana steckte die Schlosszunge ins Gurtschloss.

      „Nicht mehr als sonst, nur geben sie sich in diesen Tagen zu erkennen.“

      „Zwangsweise. Es gibt was zu schreiben.“

      „Turbulente Zeiten.“

      Drei Sätze hatten genügt, um Dana zu beweisen, dass Karl ein Meister des Small Talks war. Sie entschloss sich für einen Frontalangriff.

      „Dürfte ich Sie um ihre Hilfe bitten?“

      „Es wäre mir ein Vergnügen.“

      „Wenn Sie den Freiherrn beschreiben müssten, wie wäre ihr Urteil über ihn?“

      „Ich möchte es mir nicht zugestehen, über Herrn von Carstheim zu urteilen“, zögerte Karl nicht mit der Antwort.

      Dana musste feststellen, dass ihre Überrumpelungstaktik ins Leere gelaufen war. Doch so einfach sollte Karl nicht davon kommen.

      „Was denken Sie, wird in seiner Biografie über ihn stehen?“

      „Ich bin nicht der Fahrer der von Carstheims geworden, weil ich mich durch Indiskretion ausgezeichnet habe.“

      „Sie sind eine harte Nuss.“ Dana lehnte sich vor.

      „Ich wollte Sie auch zu keiner Indiskretion auffordern. Ich bin nur ein klein wenig nervös. Beschreiben Sie mir doch bitte seine hervorstechenden Charaktereigenschaften.“ Wie von Dana erhofft, kapitulierte Karl jetzt vor ihrer entwaffnenden Ehrlichkeit.

      „Herr von Carstheim ist der ehrgeizigste Mensch den ich kenne. Was daran liegen dürfte, dass seine Erziehung, von beiden Seiten der Familie, einzig auf Erfolg ausgelegt war. Für viele gilt er als skrupelloser Geschäftsmann. Im Gegensatz zu den meisten Machtmenschen sorgt er jedoch für die Menschen, die sich in seiner Obhut befinden. Er mag seine Ziele unnachgiebig verfolgen, lässt gewisse Grundsätze aber nie aus den Augen.“