ich das nach circa fünf Minuten mangels Atemluft bedaure. „Also Cindy, du kanntest Maria?", fragt Clausen. „Jo", sagt Cindy. „Hattest du sie gern?", hakt er nach. „Wat heißt,
gern haben. Sie war nett.", sagt Cindy. „Ja?", bohrt Clausen weiter. „Ja. Sie hat mir immer mit den Hausaufgaben geholfen. Se ham ja meine Mutter gesehen. Deren Allgemeinbildung hört bei der dritten Klasse auf." Sie erzählt weiter: „Ich hab dank ihr meinen Erweiterten geschafft. Und ab nächsten Monat 'ne Lehrstelle." „Oh", sagt Clausen. „Ja, das hättn se jetzt nicht gedacht, wa", fährt Cindy ihn an. „Nein, ich meine, äh", er sucht nach den richtigen Worten. „Das ich toll", schreite ich ein. „Als was machst du die Ausbildung?" „Als Außenhandelskauffrau", sagt Cindy und sieht sich suchend um, leise spricht sie weiter, „dann kann ich endlich hier ausziehen." Wir nicken. Bei der letzten Rommé-Runde war Cindy nicht. Ihre Mutter hatte ihr Hausarrest gegeben, da das Altglas nicht weggebracht war. „Wenn se mich fragen, ist das nicht gerecht", sagt Cindy, „aber wat is schon gerecht im Leben, wa. Maria, die war echt in Ordnung. Und nun ist sie tot. Das Leben ist einfach kacke, so isses nämlich. Und alle, die mir mit diesem Fataloptimismus kommen, von wegen jede Hürde nehmen und so, dem spuck ich persönlich ins Gesicht." Sie drückt ihre Kippe aus.
Fataloptimismus. Verdiente Mittlere Reife. Wir verabschieden uns von Cindy und wünschen ihr alles Gute. Ihre Mutter kriegen wir nicht mehr zu Gesicht. „Krass", sage ich, als wir auf dem Weg in den 10. Stock sind. „Tja", Clausen seufzt, „ein leichtes Leben hat in so einem Wohnkomplex vermutlich niemand. Aber immerhin versuchen einige, das Maximum rauszuholen. Und das zu sehen, ist doch eigentlich gut." Ich bin überrascht über seine fast einfühlsamen Worte, dann stehen wir auch schon vor der nächsten Tür. Latifa, die sofort öffnet, schätze ich auf Mitte 20. Sie ist unfassbar kurvig, dunkelhäutig und stark geschminkt. Als wir zu dritt in ihrer winzigen Küche sitzen, erzählt sie uns, dass sie als Zwölfjährige aus Südafrika nach Deutschland kam. Ihr Vater war dort Busfahrer und verstarb bei einem Unfall, ihre Mutter kratzte darauf ihre letzten Ersparnisse zusammen und fing mit Latifa in Hamburg ein neues Leben an. Etliche Putzjobs später traf ihre Mutter dann „
die Kartoffel ihres Lebens", wie Latifa es verachtungsvoll aussprach. „Der hatte schon Kinder. Weiße,
schlanke Kinder. Von da an war ich abgeschrieben." Sie schenkt uns ganz unaufgefordert ein Glas Limo ein und stellt etwas Knabberzeug auf den Tisch. „Bedient euch! Na, jedenfalls, als ich endlich diese bescheuerte Sprache gelernt hatte, war es auch schon zu spät für einen guten Schulabschluss. Jetzt geh ich zur Abendschule und putze ... wie meine Mutter. Ohne, dass wir überhaupt Kontakt haben", sie verdreht die Augen, „Sie wäre sicher
stolz auf mich." „Abendschule ist doch super!", sage ich. „
Super?", sie schaut mich irritiert an. „Hast du mal in Steilshoop eine Abendschule besucht? Die Leute können teilweise nicht mal ihren eigenen Namen schreiben." Clausen lacht, verschluckt sich fast an einer Erdnuss, lacht aber weiter. Latifa und ich sehen uns irritiert an. Das Thema ist gerade eigentlich viel zu Ernst und was sie da gesagt hat, war viel mehr die traurige Wahrheit als ein Witz. Aber in Anblick des prustenden, verschrobenen Ermittlers, der mittlerweile schon rot anläuft, kann sie nicht anders, als mit einzustimmen. Ich trinke einen Schluck Limo und grinse. „Die Menschen sind teilweise wirklich unfassbar dumm", fährt sie fort, als Clausen sich beruhigt hat. „Dafür brauchen sie nicht mal einen Migrationshintergrund, glauben Sie mir. Nach meinem Unterricht bin ich abends häufig noch zu Maria rauf gegangen und habe ihr davon berichtet. Sie hat meine Lage gut verstanden. Ihre Tochter, Carmen, ist damals heimlich aufs Gymnasium gegangen, wussten Sie das?" Ich schüttle den Kopf. „Dass sie aufs Gymnasium gegangen ist, das wusste ich. Aber
heimlich, nein, davon hatte ich keine Ahnung." „Hier im Haus erzählt man das besser nicht zu laut. Die Leute denken dann nämlich, man würde sich für etwas Besseres halten. Maria hat damals allen erzählt, Carmen würde ein Praktikum in einem Nagelstudio machen. Das war nämlich ganz in der Nähe ihrer Schule", jetzt lacht Latifa von sich aus. "
Offiziell war Carmen drei Jahre lang Praktikantin im Nagelstudio. Und damit sie nicht auffliegt, hat sie in den Schulferien und an manchen Nachmittagen unter der Woche wirklich dort ausgeholfen." Carmen hat mir tatsächlich schon oft die Nägel gemacht – ich hatte es aber nie hinterfragt. Jetzt schließt sich der Kreis. Ich bin beeindruckt von meiner Freundin und ihrer Mutter. Ich wusste schon immer, dass sie kluge Frauen sind. Aber dass Maria hier im Haus tatsächlich auf einer inoffiziellen Bildungsmission war, erfüllt mich urplötzlich mit so viel Stolz, dass ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen. „Ich habe sie übrigens nicht ermordet, falls Sie deswegen hier sind", sagt Latifa. „Maria war meine Freundin. Bei manchen Nachbarn hier habe ich tatsächlich schon mal drüber nachgedacht, sie vom Balkon zu schubsen", sie friemelt an einer Haarsträhne herum, die sich an ihrem großen Ohrring verfangen hat. „Die wohnen immerhin in Steilshoop, sprechen selbst kein Deutsch, auch wenn es ihre Muttersprache ist, aber als Schwarze wirst du trotzdem immer angestarrt, egal wie sehr du versuchst, dich zu integrieren." Ich bin nur wenig von dem überrascht, was sie erzählt. Dummheit und Intoleranz gehen zu oft Hand in Hand. Das sage ich auch. Sie stimmt mir zu und lächelt. „Hatte Maria denn irgendwelche Feinde im Haus? Also, gab es irgendwen, der Maria nicht mochte?", frage ich. Sie schüttelt lange den Kopf. „Nein, niemand. Maria war beliebt, immer freundlich und wirkte so harmlos. Mir fällt wirklich niemand ein, der ihr so etwas antun würde." Schweigen. Dann hat Clausen noch eine Idee: „Haben bei Ihnen schon einmal die Zeugen Jehovas geklingelt?" Sie lacht. „
Hier? Nein! Also ... Entschuldigung. Aber das sind doch auch meistens nette ältere Damen, die sich auf ein Käffchen mit ins Wohnzimmer setzen und über ihre Weltanschauung plaudern. Wäre ich eine kleine Omi und hätte gewisse Wertvorstellungen – ich würde zum
Plaudern nicht in diese Gegend kommen. Vielleicht, wenn ich Drogen verkaufen wollen würde. Aber die Zeugen Jehovas, nein. Die waren nie hier. Zumindest nicht bei mir." Erst als Latifa sich dafür entschuldigt, dass sie sich jetzt für die Abendschule fertig machen muss, wird uns bewusst, dass es schon nach 18 Uhr ist. „Feierabend!", ruft Clausen fröhlich, schüttelt Latifa die Hand und wackelt euphorisch zur Tür. Ich bedanke mich bei ihr und sie gibt mir ihre Nummer, falls noch Fragen aufkommen sollten oder sie irgendwie helfen kann. Dann drückt sie mich herzlich. „Paula! Beeilen Sie sich!", ruft Clausen aus dem Hausflur. Gefühlte Sekunden später sitzen wir in seinem Dienstwagen. „Haben Sie noch etwas vor?", frage ich ihn. Er nickt. „Meine Frau kommt zum Essen vorbei." „Ihre
Frau." „Ja. Da staunen Sie, oder? Ich bin verheiratet." „
So erstaunlich finde ich das nicht.", ich mache eine Pause, „Na gut, ein bisschen schon." Er lacht. „Verheiratet, aber
getrennt." „Oh", sage ich und will noch etwas Mitfühlendes ergänzen, aber da redet er schon weiter. „Ja. Und heute will sie mit mir über etwas Wichtiges sprechen. Ich schätze, sie ist endlich zur Vernunft gekommen." Voller Vorfreude trommelt er zu einem schrecklichen deutschen Schlager, der im Autoradio läuft, auf dem Lenkrad herum.
Sie werden wirklich 10 und wachsen dann nur noch, denke ich. Clausen setzt mich an der Stresemannstraße ab und ich laufe das letzte Stück zu Fuß nach Hause. Glen Hansard schreit mir durch meine Kopfhörer „Didn't he ramble" in die Ohren und ich denke, ja, das ist Clausens Song. Und gleichzeitig bin ich fast sicher, dass seine Frau heute Abend nicht zu ihm zurück kommen wird. Es ist weder Eifersucht, noch irgendwie böse gemeint – es ist einfach nur
so ein Gefühl.
Fuckface
In Sporthose und Sport-BH sitze ich im Schneidersitz auf meinem Küchensofa. Ich kann mich für kein T-Shirt entscheiden, also prokrastiniere ich, indem ich eine Zigarette nach der anderen rauche und immer mal wieder runter auf meinen unbedeckten Bauch schaue.
Manche Leute scheinen einfach dafür geboren zu sein: Sport. Sportkleidung. Und da sie dafür geboren sind, trainieren sie auch bauchfrei. Oder, als Mann, im Tanktop. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Tanktop-Träger, die aussehen, als würden sie gleich aufgrund der bloßen Anwesenheit von Brustmuskeln explodieren. Mir ist mal eine Hose am Hintern gerissen, aber an zu viel Muskelmasse lag das ganz bestimmt nicht.
Ich seufze und ziehe mir ein schlichtes schwarzes Shirt ohne Ausschnitt an. Die Brust im Sport-BH nach hinten gedrückt, fast ganzkörper-bedeckt und asexuell wie selten zu vor, trotte ich unmotiviert in Richtung Klönschnack. Carmen sieht aus wie aus einem 90er-Jahre Aerobic-Video und strahlt voller Vorfreude. Ich frage sie, ob wir nicht lieber schmierige Nudeln beim Asia-Mann essen gehen wollen. Sie lacht nur und schubst