Das schwarze Geheimnis der weißen Dame. Kolja Menning

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Название Das schwarze Geheimnis der weißen Dame
Автор произведения Kolja Menning
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752916799



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wohl wäre, Ihnen Ihre an Stil gänzlich mangelnde Kleidung vom Körper zu reißen und sie auf meinem Schreibtisch zu vernaschen.«

      »Könnte ich den Ehevertrag mal einsehen?«, fragte Marie nach einem Moment peinlichen Schweigens.

      »Sicher«, erwiderte Delacourt wieder gefasst. »Ist es Ihnen recht, wenn ich Ihnen morgen eine eingescannte Version per E-Mail schicke?«

      Marie nickte.

      »Danke«, sagte sie. »Kommen wir zu etwas anderem. Ich habe Sie bisher noch nicht gefragt, wer Ihrer Meinung nach das größte Interesse daran hätte, vertrauliche Finanzinformationen an diese Patricia Courtois weiterzugeben.«

      »Keine Ahnung«, antwortete Delacourt, jedes Wort betonend. »Ich jedenfalls nicht. Mit Verlaub, für mich sind die Beträge, um die es da geht, das Risiko gar nicht wert.«

      »Halten Sie es für möglich, dass Ihre Frau in die Sache verwickelt ist?«

      »Eigentlich nicht. Sie lebt für das Unternehmen. So was würde sie nicht machen. Aber finden Sie’s heraus. Schließlich hab’ ich Sie damit beauftragt.«

      Stimmt, gab Marie innerlich zu.

      »Was ist mit Gael Johnson?«, fragte sie weiter.

      »Der Junge hat was auf dem Kasten. Wenn er wollte, könnte er es sicher so spielen, dass niemand – auch Sie nicht – dahinter kommt. Aber ich halte auch das für unwahrscheinlich. Gael ist zu loyal.«

      »Vergessen wir mal kurz diese Loyalitätssache«, sagte Marie. »Was könnte Johnson für Gründe haben, sich in so eine Angelegenheit zu verwickeln?«

      »Was weiß ich? Vielleicht weil er Geld braucht?«

      Da war es wieder. Das Geld. Anne Delacourt hatte auch gemutmaßt, dass jemand einfach Geld brauchte. Aber das ergab keinen Sinn.

      »Das verstehe ich nun überhaupt nicht«, bemerkte Marie. »Johnson ist doch – genau wie alle anderen – an Mod’éco beteiligt. Seine Anteile müssen ein Vermögen wert sein.«

      »Sicher. Aber was hilft das, wenn er nicht rankommt?«

      »Wieso sollte er nicht rankommen?«

      »Weil wir uns darauf geeinigt haben, dass in den ersten zwölf Monaten nach dem Börsengang niemand Anteile verkauft. Das würde kein besonders gutes Signal an den Markt senden. Wir waren uns alle einig: Erst mal bleiben wir alle an Bord. Später sieht das anders aus.«

      »Ah«, machte Marie. Das war interessant. Eigentlich hätte es sie nicht überraschen sollen. Sie wusste, dass solche Vereinbarungen eine übliche Praxis waren. »Wenn Johnson also kurzfristig viel Geld brauchte, würde ihm das ein Motiv geben.«

      »Was für ein Quatsch!«

      »Haben Sie doch gerade selbst gesagt.«

      »Weil Sie mich gefragt haben, unter welchen Umständen er in die Sache verwickelt sein könnte! Da ist mir nichts anderes eingefallen«, schnaubte Delacourt. »Aber das ist doch lächerlich! Völlig absurd! Wofür sollte Gael Geld brauchen? Er macht den ganzen Tag nichts anderes als arbeiten. Und die Nacht auch. Sein Jahresgehalt beträgt hundertzwanzigtausend Euro. Das ist zwar nur Fliegendreck im Vergleich zu dem Wert seiner Anteile an Mod’éco, aber glauben Sie mir, es ist mehr, als er braucht! Wenn er wirklich mehr bräuchte, weiß er, dass er sich an mich wenden könnte. Ich würde jederzeit einen Teil seiner Anteile übernehmen und ihm einen mehr als fairen Preis machen! Dadurch, dass die Anteile nur zwischen uns umverteilt würden, wäre das in Ordnung. Das wäre sauber, risikofrei und viel unkomplizierter. Aber ich wiederhole: Sie sind die Detektivin. Ich teile nur meine Einschätzung mit, weil Sie danach fragen.«

      Später zu Hause öffnete Marie auf ihrem Laptop den Ordner 22_Mod’éco und die Liste mit den Verdächtigen. Wie war das, was sie heute erfahren hatte, einzuschätzen? Philippe Delacourt hatte an Sympathie verloren. Doch darum ging es nicht. Unsympathisch oder nicht – Delacourt hatte kein erkennbares Motiv. Er hatte Marie nicht nur beauftragt, für ihn stand auch mehr auf dem Spiel als für jeden anderen. Sie fügte ihn auf der Liste der Verdächtigen hinzu und stufte ihn etwas widerstrebend auf ihrer Verdächtigkeitsskala auf drei ein.

      Wenn sie Delacourt glaubte, hatte seine Frau ebenfalls keinen Grund, sich in einem illegalen Insiderhandel zu involvieren. Also stufte Marie Anne Delacourt auf fünf herunter, nachdem sie vorher eine Sechs gehabt hatte.

      Anne Cabart gab Marie eine Vier. Wenn sie ihren Zahlen glaubte, blieb Gael Johnson der Hauptverdächtige, auch wenn alle Befragten einstimmig Johnsons besondere Loyalität betont hatten.

      Vielleicht ist es nicht so schwierig, sondern das Offensichtliche, überlegte Marie. Sie dachte an ihren Vergleich mit dem Wolf und der Schafherde. Dieser Logik folgend, musste Johnson der Insider sein. Andererseits schien das Mod’éco-Management um Anne Delacourt ein eingeschweißtes Team zu sein. Marie musste an einen Roman von Agatha Christie denken, in dem alle Verdächtigen ein Motiv hatten. Schließlich stellte sich heraus, dass sie alle gemeinsame Sache gemacht hatten. Kam das für den Fall Mod’éco infrage? Was, wenn sie alle miteinander unter einer Decke steckten? Aber warum? Das ergab keinen Sinn.

      Plötzlich klingelte Maries Handy. Die Nummer des Anrufers wurde nicht angezeigt.

      »Hallo?«, meldete sie sich.

      »Hast du auf meinen Anruf gewartet, Schlampe?«

      Als sie die verzerrte Stimme des anonymen Anrufers vom Montagabend vernahm, stellten sich Marie die Haare auf.

       Lass dir nicht anmerken, dass er dich verunsichert!

      »Vielleicht können wir uns mal treffen«, schlug sie vor und es gelang ihr, einigermaßen lässig zu klingen.

      »Damit ich’s dir mal so richtig besorge? Ich denk’ drüber nach.«

      Und dann war die Leitung wieder tot.

      Befremdet starrte Marie auf das Display. Was hatte dieser Fünfzehn-Sekunden-Anruf zum Ziel gehabt? Ihr war nicht wohl bei der Sache, doch sie zwang sich, dem jetzt nicht nachzugehen. Stattdessen nahm sie sich die Kopien, die sie am Mittag von Jean-Baptistes Unterlagen gemacht hatte, vor. Ihr schien schon bald, dass die meisten der Seiten, die sie wahllos von Jean-Baptistes Schreibtisch aufgegriffen und kopiert hatte, nichts mit dem Fall Goldberg zu tun hatten. Jean-Baptiste hatte die Wikipedia-Seite zu Tolkiens »Der Herr der Ringe« ausgedruckt. Des Weiteren waren da ein paar Artikel zum bevorstehenden G8-Gipfel. Schließlich blieb nur ein einziges Blatt Papier: eine handschriftlich erstellte To-do-Liste. Obwohl Jean-Baptiste den Namen Goldberg nie ausgeschrieben hatte, sondern immer nur die Initialen der Goldberg-Familie verwendet hatte, war offensichtlich, dass diese eine Seite relevant war.

      Marie ging die notierten Aufgaben und offenen Fragen durch.

       Zu klärende Fragen:

       Finanzsituation der G: wirklich nur die 30.000 FF oder noch irgendwelche Anlagen?

       Verbleib der verschollenen Tochter?

       Mögliche Fluchtorte von HG? Land sofort verlassen?

       Warum hat HG seinen Job als Forscher aufgegeben?

       Wie konnte HG nach dem Mord so schnell untertauchen? Langfristig vorbereitet?

       Geldtransfers?

       Wieso hat SG HG betrogen?

       Wie hat HG herausgefunden, dass SG ihn betrügt?

       Wer waren HGs Freunde?

       Wer waren SGs Freunde?

       Reisen & Urlaubsziele der G?

       Lebensstil?

       Welche Agentur vermittelt die ehemalige Wohnung der G?

       Wer wohnt jetzt in der Wohnung?