Feuervogel. Peter Schmidt

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Название Feuervogel
Автор произведения Peter Schmidt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847658146



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Mäzen der Literaturszene. Er hätte viel lieber ein unauffälligeres Leben geführt und sich der Restaurierung seiner Sammlung alter englischer Sportwagen gewidmet. Aber dazu war es ohne Gesichtsoperation und falsche Pass inzwischen wohl zu spät.

      Jacobi parkte am Ostausgang des Hauptbahnhofs und ging durch die Bahnhofspassage zur anderen Seite, bis er die Fassaden der Häuser in der Mönckebergstraße sehen konnte. Er umrundete eine Gruppe Halbwüchsiger, die ihn um ein paar Groschen anbettelten.

      „Demolieren wir dir eben deinen Wagen, Alter“, rief ihm ein dünnbeiniges Mädchen in schwarzer Lederkleidung nach. „Das kostet dich dann tausendmal soviel …“

      Am Eingang der Straße blieb er stehen und musterte gedankenverloren die Geschäftsfassaden der alten Kontorhäuser.

      Die meisten waren nach dem Kriege wiederaufgebaut worden. Hier hatte sich alles niedergelassen, was glaubte in der Altstadt präsent sein zu müssen, von der WALL STREET CLEARING BÖRSENBERATUNG über LLOYD'S REGISTER OF SHIPPING bis zur PENSIONSKASSE der Hamburger Hochbahn AG und der Staatliche Lotterieeinnahme.

      Und es gab zu beiden Seiten der Straße Kaufhäuser. Unmöglich zu sagen, welchem der Anschlag gelten könnte.

      Gab es überhaupt irgendeinen plausiblen Grund, anzunehmen, dass beide Fälle irgend etwas miteinander zu tun hatten? Victor schüttelte unschlüssig den Kopf.

      Sein Blick glitt wieder über die Backsteinfronten.

      Das warme nachmittägliche Sonnenlicht – der berüchtigte Rotstich in den Erinnerungsfotos – spielte zusammen mit dem Dunst der Abgase aus den benachbarten Durchgangsstraßen auf den Fassaden, als seinen sie mit einem Weichzeichner aufgenommen worden.

      Aber diese Idylle trog wie fast überall auf der Welt.

      Hinter den altertümlichen Mauern wurden genauso erbarmungslos Geschäfte getätigt wie in den Hochhaustürmen der modernen Viertel.

      Wenn man einen Raketenwerfer benutzte, konnte das Projektil von vielen Punkten in der Umgebung abgefeuert werden. Von irgendeinem Hinterhof, einen Lastwagen, einem Park, ja sogar vom Hafen oder von der Binnenalster aus.

      Aber vielleicht war das Ganze ja nur Harrys umnebelten Säuferhirn entsprungen? Oder seinem übergroßen Durst? Harry hatte zwei Probleme. Das eine bestand darin, gerade nicht unter Sprit zu stehen. Und das andere, zuviel getrunken zu haben.

      Vor gut zwei Jahren hatte Victor Jacobi eine Stiftung ins Leben gerufen, die sich mit den Wirkungen des Drogenkonsums beschäftigte.

      Die Sache hatte eine Menge Geld verschlungen, ohne dass irgend etwas Nennenswertes dabei herausgekommen wäre. Und als Paradebeispiel für ihr Versagen konnte sein alter Freund Harry Boolsen gelten…

      Drogen, das waren Alkohol und Nikotin genauso wie Opium, Heroin oder Kokain. Nikotin erzeugte nach neuesten Untersuchungen einen Stoff in der Leber, der süchtig machte.

      Nikotin war gar nicht der eigentliche Suchtstoff, wie man früher geglaubt hatte. Und je nach genetischer Veranlagung produzierte der Körper mehr oder weniger von der Droge.

      Das erklärte, warum Menschen verschieden stark abhängig wurden. Seine Stiftung Sucht erprobte neue Methoden der Behandlung, vor allem die Abhängigkeit von Heroin. Omega dagegen bekämpfte auch die Organisierte Kriminalität, die Milliardengewinne mit denselben Drogen einfuhr.

      So gesehen handelte es sich bei seiner Stiftung und dem Omega-Team um eine Art Aufgabenteilung.

      Harry war einer jener Suchtkandidaten, die alles konsumierten, was sich auftreiben ließ. Naturgemäß waren das vor allem die billigeren Drogen: Alkohol und Nikotin.

      Harry hatte bisher allen noch so ausgeklügelten Behandlungsmethoden widerstanden, die von den Psychologen der Stiftung entwickelt worden waren. Sobald er die Klinik verließ, holte er alles nach, was er bei seiner Entwöhnung versäumt hatte.

      Vielleicht, so dachte Victor Jacobi achselzuckend, war Feuervogel ja nur eine neue Ausgeburt seines Delirium tremens?

      5

      Klinger hasste es, warten zu müssen. Man sagte ihm nach, er sei manchmal etwas arrogant. Arrogant, weil er schnell durchschaute, was seine Mitmenschen umtrieb – oder weil er andere gern spüren ließ, dass er ihnen geistig überlegen war. Er selbst hätte es eher als Ungeduld bezeichnet.

      Er wartete jetzt schon eine halbe Stunde auf den Chef des Lufthansa-Büros, und während er sich auf die schwarze Ledercouch im Vorzimmer flegelte, machte er keinen Hehl aus seiner Missbilligung und gähnte ausgiebig.

      Die schlanke Brünette am Schreibtisch war gar nicht so übel. Sie warf manchmal verstohlene Blicke zu ihm hinüber und grinste. Es juckte ihn, aufzustehen und mit ihr zu sprechen. Aber wahrscheinlich konnte sie ihm auch nicht weiterhelfen?

      Dann hatte er plötzlich eine Idee …

      „Hab’ ich Sie nicht auf der Beerdigung Ihres Bruders gesehen?“, fragte er und erhob sich langsam von der Couch.

      „Meines Bruders?“

      „Des zweiten Anschlagopfers – Sie wissen schon: das Top-Air-Restaurant über dem Terminal vier?“ Klinger machte eine theatralische Bewegung mit beiden Händen, als fliege über ihnen die Decke in die Luft.

      „Das war nicht mein Bruder.“

      „Der Mann aus der Anstalt“, erläuterte er. „Die Behörden behaupten, bei Ihrem Bruder habe es sich um einen kürzlich aus der Psychiatrie entflohenen Verrückten gehandelt?“

      Sie starrte ihn an, als sei er nicht ganz richtig im Kopf.

      „Von wem haben Sie denn diesen Unsinn? Mein Bruder lebt in der Schweiz und ist mindestens genauso richtig im Kopf wie jeder andere hier im Büro.“

      “Ihr Bruder ist gar nicht bei dem Anschlag ums Leben gekommen?“

      „Nein.“

      „Oh, bitte entschuldigen Sie. Wer hat denn nur diese Ente in die Welt gesetzt?“

      „Soweit ich weiß, ist der Mann noch gar nicht beerdigt.“

      „Dann muss ich Sie wohl auf einer anderen Beerdigung gesehen haben.“

      „Sind Sie von der Polizei?“

      „Nein.“ Klinger sah auf seine Armbanduhr. „Gleich zwölf. Haben Sie eigentlich niemals Mittagspause?“

      „Doch, um halb eins. Das Büro schließt für eine Stunde.“ Sie zeigte auf das Schild an der Glastür.

      „Kann ich Sie vielleicht … ich meine, um meinen Fauxpas wiedergutzumachen? Darf ich Sie zum Essen einladen?“

      „Nein, das wäre wirklich nicht …“

      „Sie würden mir eine große Freude damit machen. Und Ihrem Chef scheint ja wohl etwas dazwischengekommen zu sein?“

      In diesem Augenblick klingelte das Telefon auf ihrem Schreibtisch.

      Sie nahm ab, nickte Klinger kurz zu und sagte: „Geht in Ordnung“ in den Hörer. „Herr Haller wird leider nicht vor drei Uhr hier sein. Eine Besprechung in der Zentrale wegen der Anschläge – tut mir leid.“

      Dass sie Linda hieß, machte die Sache auch nicht leichter für ihn. Linda war eine unerwiderte Jugendliebe gewesen, die erste große Katastrophe seines Lebens.

      Diese Linda hier nahm es mit der Geheimhaltung – oder dem, was sie dafür hielt – genauer als ein deutscher Finanzbeamter. Zumindest beim Essen. Sie stopfte Unmengen von Salaten und Nudeln mit Putenfleisch in sich hinein.

      „Wo lassen Sie das bloß alles, Linda?“, feixte er.

      „Mein Stoffwechsel … hat schon Dutzende von Männern verschlissen, die so leichtsinnig waren, mich zum Essen einzuladen …“

      Ihr Alkoholkonsum