Der Nachlass. Werner Hetzschold

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Название Der Nachlass
Автор произведения Werner Hetzschold
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752924022



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ihm zu widerstehen.

      „Wusste ich es doch, dass du es kannst. Ich hole uns etwas zu trinken. Sicher magst du einen Cognac.“

      Aus dem Schrank holt sie die Flasche, zwei Gläser. Jetzt bemerkt Thomas, dass sie unter der Schürze nur einen Büstenhalter und einen Slip trägt.

      Lange, schöne, schlanke Beine hat sie, stellt er fest.

      Sie stellt zwei Gläser auf den Tisch, die Flasche, kuschelt sich in die Couch, zeigt dabei ihre Beine. lächelt wieder, sagt dann: „Wusste ich es doch, du traust dich nicht.“

      Nervös streicht Thomas seine blonden Locken aus der Stirn, versucht gegen den Schweiß anzukämpfen, der sich auf seiner Haut zu bilden droht. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Ihm fehlt die Erfahrung. Hilflos lächelt er die Frau an, wartet auf ein Zeichen von ihr.

      Ermutigend lächelt sie zurück, wartet ab.

      Thomas spürt, wie die Hitze in ihm aufsteigt. Er bildet sich ein, seine Ängste müssen ihm in das Gesicht geschrieben sein. Noch immer zögert er, wartet ab, ist gerade entschlossen ...

      Die Frau erhebt sich von der Couch, geht um den Tisch herum, nimmt die Flasche in die Hand. Dabei berührt sie Thomas scheinbar unbeabsichtigt mit ihren langen, schlanken Beinen. Thomas spürt ihre Haut auf seiner Haut. Ihre Haut fühlt sich gut an, so weich und geschmeidig. Ohne ein Wort füllt sie die Gläser, neigt sich zu Thomas herab, flüstert kaum hörbar: „Prost“. Ihr Atem streift Thomas. Angenehm nach Pfefferminze duftet er.

      „Prost“, antwortet Thomas, befürchtet, nicht gehört zu werden, zu versagen.

      Ihre Gläser berühren sich.

      Thomas spürt den Cognac auf der Zunge, schmeckt ihn, leert das Glas.

      Die Frau lächelt. Ihre schmale Hand mit den langen Fingern umfasst die Flasche. Wieder stehen zwei gefüllte Gläser auf dem Tisch. Rotbraun schimmert ihr Inhalt in der Sonne. Thomas hat das Gefühl, seine Ängste und Hemmungen schleichen davon, seine Unbeholfenheit weicht, Mut und Entschlossenheit greifen nach ihm, geben ihm Selbstvertrauen und Sicherheit. Thomas ist zufrieden mit sich. Seine Hand sucht das Glas. Seine Fingerspitzen berühren die der Frau. Er spürt ihre Wärme. Ein Verlangen nach Zärtlichkeit durchflutet seinen Körper. Ihre Finger verschlingen sich ineinander. Ihre Blicke begegnen sich. Sie fordert ihn auf. Wieder hat er Hemmungen. Sie ist die Mutter seines Freundes. Sie ist älter als er. Sie hat einen Partner, feste Bindungen, die will er nicht zerstören. Sein Gewissen peinigt ihn. Er soll Grenzen überschreiten, die er überschreiten möchte, aber gleichzeitig auch nicht überschreiten will, weil er Angst hat. Sie ist die Mutter seines besten Freundes. Wie soll er ihm in die Augen sehen? Wie soll er in Gegenwart seines Freundes dieser Frau begegnen, die die Mutter dieses, seines besten Freundes ist? Bilder stürmen auf ihn ein, Gedanken, Befürchtungen. Was wird seine Mutter sagen, wenn sie erfährt, dass ihr Junge die Mutter seines Freundes liebt, mit ihr ... Weich und sanft ist der Druck ihrer Hand. Willenlos überlässt er sich dieser Hand, die seinen Körper streichelt, liebkost, ihn vergessen lässt. Er ist nur noch Gefühl. Er weiß nicht mehr, was mit ihm geschieht. Wie ein führerloses Schiff lässt er sich treiben. Noch nie in seinem Leben hat er so schön die Passivität empfunden. Er tut nichts und fühlt sich wie im Rausch. Ihr Mund tastet seinen Körper ab, erkundet seinen Körper. Er lässt es einfach geschehen.

      Als Statisten wirken Volker und Thomas in einigen Stücken mit, so dass ihre Abende ausgefüllt sind. Wieder stehen „Die Räuber“ auf dem Spielplan. Hinter der Bühne wartet geschlossen die Statisterie. Das Stichwort ist gefallen. Wie die anderen auch stürzt Thomas die schwankende Holzstiege hinauf. Dicht hinter sich weiß er Volker. Scheinwerferlicht empfängt ihn. Er steht auf der Bühne. Die Gruppen formieren sich. Von Gruppe zu Gruppe geht Herr Schlehmilch. Jetzt nähert er sich Volker, Thomas und Matthias, sagt: „Deutlich singen, Kinder. Heute haben wir wieder ein volles Haus.“

      Nun steht der Statistenchor im Mittelpunkt, trägt sein Lied vor: „Ein freies Leben führen wir, ein Leben voller Wonne. Der Wald ist unser Nachtquartier. Bei Sturm und Wind hantieren wir. Merkur ist unsere Sonne.“ Nach der Vorstellung gehen Thomas und Volker mit den anderen in die Kantine. Mitunter begegnen sie dort den Schauspielern. Inzwischen kennt Thomas die Mitglieder der Statisterie, weiß, was sie beruflich tun. Aus den unterschiedlichsten Bereichen kommen sie. Viele sind Oberschüler und Studenten, aber auch Arbeiter sind unter ihnen, Lehrlinge, Angestellte.

      In wenigen Stunden löst das neue Jahr das alte ab. Thomas befindet sich auf dem Weg zur Schauspielschule. Er ist aufgeregt. Ein komisches Gefühl, das er nicht deuten, nicht beschreiben kann, hat er in der Magengegend. Die Straßen, die ihm vertraut sind, erscheinen ihm fremd, so als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben durchqueren. Wie ein Fremder fühlt er sich in der Stadt, in der er aufgewachsen ist. Eine ehemalige Villa ist zur Schauspielschule geworden. Eine breite Treppe führt zu einer großen, schweren Tür. Hinter der Tür erwartet Thomas ein breiter Treppenaufgang mit reichverziertem Treppengeländer. Geräumig ist das Treppenhaus und vornehm. Sein Weg führt ihn nach oben. Dort empfängt ihn das nicht zu übersehende Sekretariat. Hinter einem gewaltigen Schreibtisch sitzt eine zierliche, fast zerbrechlich wirkende junge Frau mit schwarzen, kurz geschnittenen Haaren. Verlegenheit erfasst Thomas. Wieder befällt ihn die Angst, er könne stottern, wenn er zu sprechen beginnt. Ermutigend lächelt sie ihn an, erkundigt sich nach seinem Namen. Thomas reicht ihr die Einladung zur Prüfung. Sie fordert ihn auf, ihr zu folgen. Sie geleitet ihn in einen großen Raum, an dessen Wänden Stühle stehen. Die meisten sind schon besetzt. Auf ihnen hocken junge Menschen. Die jüngsten sind so alt wie Thomas. Der weitaus größte Teil unter ihnen ist aber über zwanzig Jahre alt. Thomas nimmt neben einem jungen Mann Platz, den er etwa Mitte zwanzig schätzt. Kaum sitzt Thomas auf dem Stuhl, verspürt er wieder dieses eigenartige Gefühl in der Magengegend. Er erhebt sich, verlässt den Raum, begibt sich auf die Suche nach der Toilette, findet sie schneller als er zu hoffen gewagt hatte, schließt sich ein. Hier ist er allein, ungestört; niemand kann ihn beobachten. Er schließt die Augen, geht noch einmal die Texte durch, suggeriert sich, ruhig zu bleiben. Bevor er die Toilette verlässt, wirft er einen kritischen Blick in den Spiegel, betrachtet sich lange und ausgiebig, kämmt sich die blonden Locken durch, schneidet Grimassen, muss lachen. Wieder im Raum angekommen, findet er den jungen Mann nicht vor. Bestimmt spricht er jetzt vor! Thomas spürt, wie bei diesem Gedanken wieder das Lampenfieber von ihm Besitz ergreift. Er versucht sich abzulenken, mustert seine Umgebung erneut. Neben ihm sitzt jetzt ein lang aufgeschossener junger Mann mit einem großen Koffer.

      „Hast wohl gleich die Kostüme mitgebracht“, versucht Thomas ein Gespräch in Gang zu bringen.

      „Genauso ist es! Ich fühle mich dann besser“, erklärt der Hagere. „Wenn ich in dem Kostüm stecke, dessen Rolle ich gerade spiele, bilde ich mir ein, wirke ich überzeugender. Ich bin sicher, ich habe die Rolle dann besser im Griff. Für mich ist das Kostüm von ausschlaggebender Bedeutung.“

      Träge schleichen die Minuten dahin. Nicht nur Thomas ist die Ungeduld ins Gesicht geschrieben. Die Tür öffnet sich. Ein glücklich leuchtendes Gesicht stürmt aus dem Raum, schreit: „Kinder, ich habe es geschafft. Die Eignungsprüfung habe ich bestanden.“

      „Das ist schon der Sechste!“, verkündet feierlich ein schwarzer Vollbart. „Die Chancen nehmen zusehends ab. Erfahrungsgemäß bestehen maximal zehn die Eignungsprüfung pro Prüfungstag. Und der Saal ist immer noch brechend voll besetzt.“

      „Ach Kinder, bin ich glücklich. Ich kann es noch gar nicht fassen. Ich drücke euch allen die Daumen. Während er das sagt, nimmt seine rechte Hand die Reisetasche auf. Ich wünsche euch allen ein gesundes, erfolgreiches neues Jahr. Tschüss bis zur Aufnahmeprüfung!“

      „Der Beneidenswerte“, hört Thomas neben sich eine sanfte Frauenstimme.

      Thomas hat gar nicht bemerkt, dass neben ihm eine tolle Blondine Platz genommen hat. Ein schmales, langes Gesicht hat sie mit großen, dunklen, schwermütig blickenden Augen. Auf Mitte zwanzig schätzt sie Thomas.

      „Die erste Hürde hat er erfolgreich genommen, der Glückliche. Die meisten von uns werden hier schon stolpern und aufgeben müssen. Nicht wenige von den Ausgemusterten werden es dann im nächsten