Dialoge, Monologe, Interviews. Walter Rupp

Читать онлайн.
Название Dialoge, Monologe, Interviews
Автор произведения Walter Rupp
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748587613



Скачать книгу

nicht. Aber jetzt habe ich die Bestätigung. Jetzt hab' ich sie.

      LINKSINTELLEKTUELLER: Worüber wundert man sich eigentlich, wenn man nach so langer Zeit wieder einmal auf die Erde kommt?

      MARX: Man wundert sich darüber, dass sich nichts geändert hat. *nimmt eine Zeitung und liest Schlagzeilen: „Abstimmungsniederlage der Opposition“, „Arbeiter protestieren gegen Rationalisierungspläne“, „Selbstmord nach Familienkrach“, “Bundesrat stimmt der Diätenerhöhung der Abgeordneten zu“, „Steuerhinterziehung in Millionenhöhe“… Alles wie zu meiner Zeit. Alles wie zu meiner Zeit. -

      LINKSINTELLEKTUELLER: Du wolltest doch einmal die Zustände ändern, damit sich die Menschen ändern können.

      MARX: Leider haben die Menschen nicht mitgemacht. Mir hat vorgeschwebt, dass jeder Arbeiter immer weniger arbeitet und dabei immer mehr verdient, ja dass er eines Tages überhaupt nicht mehr arbeitet, nur noch verdient.

      LINKSINTELLEKTUELLER: Jetzt verstehe ich dich nicht. Hast du nicht den Menschen als ‚Werkzeuge schaffendes Tier‘ definiert?

      MARX: Das lässt sich korrigieren. Dann ist er eben ein ‚konsumierendes Tier‘.

      LINKSINTELLEKTUELLER: Ohne Arbeit wird er unter Langeweile leiden. MARX: Ganz und gar nicht. Er wird dann Zeit haben, endlich meine Schriften zu studieren. Nicht einmal meine überzeugtesten Anhänger haben mein ‚Kapital‘ gelesen. Das ist ein Skandal. Wie will einer die Welt und mich verstehen, wenn er meine Schriften nicht gelesen hat?

      LINKSINTELLEKTUELLER: Was bereitet dir die meisten Sorgen, wenn du an die gegenwärtige Situation denkst?

      MARX: Der Glaubensschwund. Der besorgniserregende Glaubensschwund. Es hat sich überall eine erschreckende Skepsis breit gemacht.

      LINKSINTELLEKTUELLER: Du wunderst dich darüber, ausgerechnet du? Du hast doch die Religion als Opium bezeichnet und vorausgesagt, dass mit dem Fortschritt und der Aufklärung der Massen der Glaube sterben wird.

      MARX: *nimmt das ‚Kapital‘. Habe ich das alles geschrieben? Was man so alles im Laufe seines Lebens von sich gibt. Fast hätte ich mich nicht mehr daran erinnert.

      LINKSINTELLEKTUELLER: Deine Prophezeiung ging bis jetzt nicht in Erfüllung, dass die Religion... MARX: Wie kommst Du auf Religion? Ich sprach vom Glauben an den Weltkommunismus. Man will nicht einmal mehr in Osteuropa an ihn glauben und betet mich nicht einmal mehr in Deutschland an.

      LINKSINTELLEKTUELLER: Du denkst an die Studentendemonstrationen 1968.

      MARX: Sprechen Sie nicht von Demonstrationen. Es war von oben deutlich zu sehen: es waren Prozessionen. Diese Ehrfurcht,

      diese Andacht -

      LINKSINTELLEKTUELLER: ... die man dir und deinem Bild entgegenbrachte, hatte wirklich religiöse Züge. Es gab sogar Christen, die von dir wie von einem Heiligen gesprochen und deine Schriften mit dem Evangelium verglichen haben.

      MARX: Nicht zu Unrecht. Aber dass man sich jetzt meiner schämt …

      LINKSINTELLEKTUELLER: Das wird nur eine vorübergehende Krise sein.

      MARX: In meinen Voraussagen war von einer Krise nie die Rede, sondern von einer kontinuierlichen Aufwärtsentwicklung, von einem geradlinigen und steten Fortschritt. Ich habe unmissverständlich den Zusammenbruch des Kapitalismus und den Triumph des Kommunismus angekündigt, aber doch nicht umgekehrt.

      LINKSINTELLEKTUELLER: Die Geschichte geht eben häufig eigene Wege. Irgendwer hat da Sand ins Getriebe gebracht.

      MARX: Diese Proleten - man macht ihnen klar, was ihr Glück ist, und sie suchen ein anderes Glück, manchmal eines, vor dem ich sie eindringlich gewarnt habe.

      LINKSINTELLEKTUELLER: Ja, die Menschen...

      MARX: Sie haben mir mit ihrer Ungeduld alles kaputt gemacht. Ich predige: dass man für das Wohl künftiger Generationen Opfer bringen muss, und sie wollen das Glück schon jetzt. Sie sind wie kleine Kinder, sie können nicht warten, sie bestehen auf der sofortigen Erfüllung ihrer Wünsche. -

      LINKSINTELLEKTUELLER: Darf ich eine persönliche Frage stellen?

      MARX: Meinetwegen, obwohl mir persönliche Fragen zuwider sind.

      LINKSINTELLEKTUELLER: Was würdest du, wenn du noch einmal hier sein dürftest - hier sein müsstest, anders machen?

      MARX: Nicht viel, gewiss nicht viel. Ich würde vielleicht etwas vorsichtiger mit dem Kapitalismus umgehen, weil ich einsehen musste, dass es unter den Kommunisten auch anständige Kapitalisten gegeben hat.

      LINKSINTELLEKTUELLER: Müsstest du rückschauend etwas bereuen?

      MARX: Ich soll bereuen? Ich bitte dich! Sicher war es ein Fehler, Hammer und Sichel als Symbol des Proletariats zu wählen. Wir hätten uns für die Luftmatratze und den Liegestuhl entscheiden sollen. Aber zu meiner Zeit waren solche Artikel noch nicht zu haben. Vielleicht wäre es auch besser gewesen, zwischen dem Kommunismus und dem Kapitalismus keinen Unterschied zu machen. Aber sonst...

      VOLTAIRE

      *Im Fegefeuer

      PFARRER: Was ist mit Ihnen los? Sie schreiben wie besessen. Wollen Sie ein Buch schreiben, etwa über Ihre Diesseitseindrücke? Glauben Sie, dass sich hier jemand dafür interessiert?

      VOLTAIRE: O nein. Ich hasse inzwischen das Schreiben.

      PFARRER: Aber Sie können es doch nicht lassen.

      VOLTAIRE: Das ist es ja: Dieser verflixte Zwiespalt: ich möchte nicht mehr schreiben und muss es doch.

      PFARRER: Wieso müssen Sie?

      VOLTAIRE: Man hat mir auferlegt, meine Texte zu verbessern. Das Schlimmste dabei ist, seine eigenen Texte wieder lesen zu müssen. Mit meinen Texten habe ich mir drunten viele Freunde und hier oben viele Feinde gemacht.

      PFARRER: Waren Sie Schriftsteller?

      VOLTAIRE: *Er nickt. Ein Schreibverbot wäre mir lieber gewesen.

      PFARRER: Ja, was man ein Leben lang getan hat, kann man nicht mehr lassen.

      VOLTAIRE: Wie ich nur auf diese Idee kommen konnte, Sätze zu schreiben, über die sich die Menschen ärgern sollten.

      PFARRER: Mir geht es ebenso: Vieles, was ich einmal gesagt habe, würde ich jetzt auch nicht mehr sagen.

      VOLTAIRE: Ich hatte nie geglaubt, dass es so schwer ist, meinem ‚L’Evangile de la raison’ eine vernünftige Fassung zu geben.

      PFARRER: Sie haben ein ‚Evangelium der Vernunft’ verfasst? War Ihnen das christliche Evangelium nicht vernünftig genug?

      VOLTAIRE: Als ich noch drunten war, glaubte ich das.

      PFARRER: Man hätte drunten wissen sollen, was man jetzt weiß.

      VOLTAIRE: Wie finden Sie den Satz: „Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden?“

      PFARRER: Originell ist dieser Satz. Aber wer hätte Gott erfinden können?

      VOLTAIRE: Sie haben Recht, ohne ihn gäbe es ja auch keine Menschen.

      PFARRER: Wenn man über heilige Dinge lästert … Die hiesige Zensur lässt so etwas nicht durchgehen.