Название | Immer mutig |
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Автор произведения | Paul Scheerbart |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742766236 |
heraus.
Michael schlägt zu und haut unzählige Schlangenarme
ab – aber die abgeschlagenen Glieder verbinden sich
wieder mit dem Drachenrumpf.
Und des Erzengels Arm erlahmt.
Da kommt des Satans Kopf wieder an die Oberfläche
des Rumpfes und grinst den Engel an wie ein
Totenschädel.
Der Engel will zuschlagen, doch er kann das Schwert
nicht mehr heben – seine Arme zittern.
Und die Millionen dicker Schlangenarme umhalsen
den eisernen Engel, so daß der schier erstickt wird.
»Hör auf!« schreit der Engel.
Der Satan läßt nach, die weichen schlaffen dicken
Schlangenarme lösen sich von dem Engel los.
Und langsam sinkt der Drachensatan zurück.
»Nächstens kämpfen wir wieder von Neuem!« flüstert
höhnisch der müde Teufel.
Der Engel stöhnt und schwebt mit hängendem Kopfe
davon; nur ganz allmählich kehrt die Kraft in die
zitternden Muskeln zurück.
Bunte Wolken nehmen den Engel auf und erfrischen
ihn. Langsam steigen starke Marmorsäulen in den
Himmel empor. Die Säulen steigen immer höher und
verschwinden zwischen den Sternen.
Die Kummerlotte
Die Morgensonne glühte in die Resedabüsche, die vor
Lottens Dachfenster blühten.
Und sie saß still vor ihrer Nähmaschine und machte
ein trauriges Gesicht.
Die Lotte war sonst immer so glücklich gewesen –
früher, als sie so wenig Geld verdiente und so oft nur
Häringe zu Mittag aß.
Früher war sie eigentlich stets so recht lustig gewesen
– so seelenvergnügt.
Das war jetzt Alles so anders geworden.
Seit drei Tagen war die Lotte die richtige
Kummerlotte geworden. Wie kam das?
Die Nähmaschine stand seit drei Tagen still.
Und das Unglück? Wie sah's denn aus? Oh – es sah
merkwürdig gut aus – das Unglück. Andere Menschen
hätten das Unglück ein großes Glück genannt.
Die arme Lotte hatte geerbt – zweimal!
Zweimal geerbt in drei Tagen!
Von einem alten Großonkel hatte sie zehntausend
Thaler geerbt – und von einer Kusine dreihundert Thaler.
Das war das Unglück!
So sah Lottens »Unglück« aus!
Traurig schaute die Kummerlotte ihre Resedabüsche
an – ihr traten ganz dicke Thränen in die Augen.
Die Leute im Hause schüttelten den Kopf und
meinten, bei dem guten Mädchen sei's da oben nicht ganz
richtig.
»Dumme Trine!« riefen die beiden heiratsfähigen
Töchter des Hauswirts.
»Kummerlotte!« riefen die Gassenjungen.
Sie aber sagte nichts dazu, sie gab keine Erklärung –
sie seufzte und schloß sich ein.
Da saß sie nun am Fenster in der Morgensonne und
grübelte.
»Das Geld ist mein Unglück!« flüsterte sie immer
wieder.
»So lange ich kein Geld hatte,« meinte sie so recht
vergrämt, »war ich immer frisch und jung. Doch wie das
Geld kam, war meine Jugend fort. Muß ich da nicht
traurig sein? Kann mir das Geld das traurige Gefühl
ersticken? Ach ja – es ist nicht angenehm, wenn man
merkt, daß man alt geworden ist. Es kam so plötzlich –
als ich nicht mehr arbeiten brauchte – und über alles
nachdachte.«
Sie nahm ihren Wandspiegel und betrachtete
kummervoll ihr Gesicht! Alt sah sie eigentlich noch nicht
aus – und doch – sie fühlte, daß sie's war.
Niemand verstand die Kummerlotte.
Sie aber verstand sich.
Und abermals sprang das Nilpferdchen auf, trampelte wild im
schwarzen Felsensaale herum und hielt dann wieder eine Rede.
»Onkelchen,« sagte es, »über die Vorteile, die die Armut bietet, ist
schon so viel gesagt worden, daß es bald wirklich Not tut, die
Vorzüge des Reichtums zu verteidigen und ein bißchen in Schutz
zu nehmen; die reichen Leute bedauern sich schon ein wenig zu viel;
so furchtbar schlimm ist der Reichtum doch auch nicht. Wenn die
Verherrlichung der Armut so große Dimensionen annimmt, so
brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sich schließlich die
bedauernswerten Geldbesitzer zusammentun und sich gegen die
protzenhafte. Alles unterdrückende Macht der armen Leute
empören. Das gäbe dann eine nette Bescherung. Das wäre eine
schöne Revolution. Wer die Verhältnisse in Europa so gut kennt
wie ich, wird eine solche Revolution gar nicht für unmöglich halten.
Das Ridiküle ist tatsächlich das Modernste. Manche Leute, denen
das Verschleiern und Umdrehen zur Gewohnheit geworden ist,
verdrehen die Dinge so lange – bis sie selber verdreht werden. Die
Reichen sind wirklich auf das Glück der Armen viel neidischer als
man glaubt – und demnach ist es wohl geboten, den Kurs der
sozialen Poesie wieder etwas zu ändern. Doch davon brauchen wir
eigentlich nicht so viel zu reden. Wichtiger ist Dein Teufel der
Lebensmüdigkeit, der Gurgeln abschneidet und sich selber nichts
abschneiden läßt.«
Ich wollte wieder was sagen, doch das kleine Tier fuhr eifrig fort:
»Bedenke, daß die einfache tierische Luft bloß ein einfacher
Lebensreizer ist, der nur einfachen Lebewesen zum Weiterleben
genügenden Anreiz verschafft. Wer nur ein bißchen höher hinaus
will, wird durch die einfachen Lebensreizer – wie da sind:
Schinken, Champagner, Chansonette, Leberwurst und Paprika –
nicht am Leben erhalten. Der höhere wendet sich an Kunstspäße
ernster Güte, an Philosophie und überirdische Herrlichkeit. Diese
letzteren Dinge ziehen schon mehr an. Indessen – Rückfälle in die