Mary Shelley. Barbara Sichtermann

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Название Mary Shelley
Автор произведения Barbara Sichtermann
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783955102869



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er ist der gefallene Engel und der wahre Engel. Er ist unser aller Vorfahr.«

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      Mary Wollstonecraft (1759–1797), Schriftstellerin, Philosophin und Frauenrechtlerin. Gemälde von John Opie, 1797

      »Und Milton war Republikaner, Percy. Er ist ein Vorfahr, der noch gar nicht so lange tot ist. Nur ein gutes Jahrhundert liegt zwischen ihm und uns.«

      »Wollen wir zusammen Milton lesen?«, Percy trat vor sie hin und strich über ihren Kragen. »Du trägst dich schlicht«, sagte er, »das gefällt mir.«

      »Wirklich? Das rote Kleid, in dem Harriet sich hier eingeführt hat, ist heute noch Gesprächsstoff zwischen Fanny und Jane.«

      »Harriet glaubt, weil sie mit einem Edelmann verheiratet ist, braucht sie eine erlesene Garderobe. So ein Blödsinn. Hat Eliza ihr eingeredet. Ich verachte die Prätentionen meiner Klasse. Weißt du, womit die Aristokratie ihre Zeit verbringt? Mit der Jagd und dem Kartenspiel.« Er stöhnte auf. »Einige wenige verwalten ihre Güter selbst oder machen Politik oder streben nach militärischen Ehren. Aber die meisten sind Parasiten vor Gott und der Natur. Jagd und Kartenspiel. Es ist zum Verzweifeln.«

      »Weißt du, womit die Angehörigen meines Geschlechts ihre Zeit vertun? Mit Putz und Klatsch. Ist das besser? Und man könnte es so leicht ändern. Durch Bildungspläne für Töchter, durch Teilhabe der Frauen an euren Parlamenten, euren Vereinen, euren Akademien … Schlag nach bei Mary Wollstonecraft, da steht schon alles drin.«

      Percy hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und drückte plötzlich seine Hand gegen das Brustbein. »Ich habe Schmerzen. Hier drin«, sagte er, »mein Arzt weiß nicht recht, was es ist. Am Ende die Schwindsucht?« Er lachte und hustete zugleich.

      Mary trat neben ihn und fragte:

      »Wie lange hast du das schon?«

      »Jahrelang«, gab er zur Antwort. »Ich bin ein Invalide.«

      »Ich sah dich rennen wie ein Reh. Du kannst kein Invalide sein.«

      »Und doch sticht es hier drinnen und sticht. Das muss eine Ursache haben.« Und er fing wieder an, wie verrückt zu lachen.

      »Wir machen doch hier keine Scherze«, verwies Mary ihn irritiert.

      »Mädchen«, sagte er, »ich war noch nie so ernst. Sag mir die Wahrheit. Was ist mit diesem Baxter-Jungen, der aus Schottland angereist ist? Jane sagt, er sei deinetwegen hier. Ist da was dran? Will er dich entführen?«

      »Robert?« Mary lachte. »Selbst wenn er es wollte – ich würde niemals mit ihm gehen.«

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      Mary war vier Jahre alt, als ihr Vater zum zweiten Mal heiratete, als sie mit Jane und Charly erwünschte Spielgefährten bekam und mit der neuen Mrs Godwin eine strenge Stiefmutter. Die wusste wenig von den rousseauistischen Erziehungsprinzipien ihres Gatten und der verstorbenen Mary Wollstonecraft und fand, man müsse von Kindern vor allem Gehorsam und Disziplin fordern. So klein Mary auch war, erlebte sie doch die neue Hausherrin und deren Regiment als Bruch in ihrem Leben, zumal die zärtliche Kinderfrau, die sie bis dahin betreut hatte, entlassen wurde. Ihr Vater ahnte, was in seiner Tochter vor sich ging, aber er war froh, nach mehreren Fehlschlägen auf dem Heiratsmarkt nun doch noch eine Frau gefunden zu haben, die sich der Kinderschar resolut annahm und die ihm überdies gefiel. Mary Jane Clairmont war eine imposante Erscheinung und ein starker Charakter. Aber sie war eben auch ein Mensch, der darunter leidet, wenn er herabgesetzt wird. Gegen den übermächtigen Geist der verstorbenen Mary Wollstonecraft kam sie nicht an. Doch war sie klug genug, ihren geheimen Groll vor ihrem Ehemann zu verbergen. Das Töchterchen Mary jedoch, das sich für etwas Besseres hielt und auf Jane und Charly und selbst auf Fanny glaubte herabsehen zu können, das zankte sie mit Vorliebe aus, wenn es wieder nicht zeitig genug ins Bett gegangen war. In solchen Momenten ließ sie einiges von ihrer Unzufriedenheit mit dem Leben an Godwins Seite in harten Worten und auch mal durch die erhobene Hand zum Vorschein kommen. Und Mary konnte wenig mehr tun, als sich wegducken. Das hatte sie früher nicht nötig gehabt. Das trug sie dem Vater vor, doch als sie sah, wie unglücklich er sie anblickte, fast so, als wolle er sie hypnotisieren, hielt sie fortan lieber den Mund und bemühte sich, es der neuen Mutter recht zu machen. Aber tief in ihrem Herzen blieb sie die stolze Tochter einer nie gekannten, wundervollen, weithin berühmten Mutter und damit etwas ganz Besonderes. Der Einzige, der darum wusste und das auch so sah, war ihr Vater. Und wenn sie an dessen Tür klopfte, ließ er sie ein, holte ein Buch hervor und gab es ihr zu lesen; anschließend musste sie das Gelesene in eigenen Worten reproduzieren. Oder er gab ihr Stifte, damit sie zeichnete. Und er sagte nie so obenhin: »Das hast du aber fein gemacht«, sondern meinte, sie könne das noch besser, und stellte ihr Aufgaben für den folgenden Tag. Er unterrichtete auch Fanny und Jane; aber in Mary fand er einen Geist von wahrer Neugierde und frühreifem Verständnis, und so dauerte der Unterricht, den er ihr erteilte, mehr als doppelt so lange wie die knappen Stunden, die er für die beiden anderen übrig hatte. Mary blieb das alles nicht verborgen, und sie trug den Kopf hoch, die Konkurrenz zwischen den Halb- und Stiefgeschwistern war groß. Doch sie hielten auch zusammen – gegen die kontrollierende Mutter und den fordernden Vater.

      Als der kleine William geboren wurde, entspannte sich die Situation, weil die Mutter so stark mit dem Säugling beschäftigt war, dass sie die Großen mehr sich selbst überlassen musste. Dann kamen die Älteren in die Pubertät, und es ging erneut los mit Krächen und Szenen. Godwin tat das einzig Richtige: Er schickte seine Mary nach Schottland, wo die Tochter das Klima genoss, ihre Studien trieb und Freundschaften pflegte. Auch Mrs Godwin ging es jetzt besser, denn ihre ärgste Rivalin um das Herz ihres Mannes war aus dem Haus. Doch Jane und Fanny entdeckten, wie gern sie Mary im Grunde hatten und wie vertraut sie mit ihr waren, und vermissten sie sehr. Sie schrieben ihr Briefe, gewöhnten sich dann aber doch an ihre Abwesenheit. Wer am meisten unter der Trennung litt, war Vater Godwin. Er stellte fest, dass er geradezu abhängig davon war, sein schönes und gelehriges Kind täglich zu sehen. Nun war sie fort. Ein Gelehrter wie Godwin wusste, wie er sich über Kummer und innere Leere hinweghelfen konnte: Er schloss sich in sein Studierzimmer ein und las die großen Werke. Gerne auch, zum wiederholten Male, die eigenen.

      Jetzt, im Juni des Jahres 1814, war Mary zu Hause, und sie fand vieles verändert. Fanny war noch stiller geworden, sie schien ganz in ihren Träumen zu leben und ging ihr und Jane meist aus dem Weg. Jane war aufgeblüht, wie es Mary schien. Hübsch war sie geworden und nicht mehr so leicht beleidigt. Sie lachte viel, meist ohne Grund, als wolle sie einfach nur ihre schöne Stimme erklingen lassen. An Mary schloss sie sich eng an und erzählte, wer ihr beim Bäcker schon zum zweiten Mal ein Kompliment gemacht hatte, zuweilen musste Mary sie regelrecht abschütteln. Der Vater war zwar seiner Geldsorgen wegen dauernd verstimmt, aber wenn Mary zu ihm kam, etwa, um ihm anzubieten, aus der Zeitung vorzulesen oder einen Spaziergang zu machen, hellte sich seine Miene auf, er schloss sie in die Arme, und das machte sie glücklich. Charles war nicht mehr zu Hause, er hatte eine kaufmännische Lehre begonnen und kam nur ab und an zu Besuch. William war ein frecher Mops, bald zwölf Jahre alt und ziemlich laut, aber Mary mochte ihn, er glich dem Vater.

      Und dann waren da die namhaften Gäste, die ein- und ausgingen. Allen voran Mr Shelley – der jetzt nur noch ohne seine Ehefrau erschien. Mary saß inzwischen ganz zwanglos nach dem Essen in der Runde mit dabei, sie mischte sich in die Diskussionen ein, vorsichtig noch und eher mit Fragen, aber sie hatte das Gefühl, dazuzugehören, schon deshalb, weil sie Schriftstellerin werden wollte und weil sie von Shelley und ihrem Vater wusste, dass sie das Talent dafür besaß. Sie hatte Percy ein Gedicht gezeigt und er hatte es laut gelesen, mit aparter Intonation, so wie nur er es konnte, mit seiner singenden Stimme. Sie sagte ihm, sie hätte nicht gewusst, wie schön das Gedicht sei, bis er es ihr vorgelesen hätte.

      Als Mary das nächste Mal auf den Friedhof kam, es war der 26. Juni, allein und ohne verabredet zu sein, nur mit ihren Büchern und dem Notizheft im Beutel, war Shelley schon da. Er saß ein Stück von Wollstonecrafts Grab entfernt, unter einem Weidenbaum und aß einen Apfel. Wie er sie kommen sah, warf er den Rest des Apfels über die Gräber hinweg und streckte