Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder

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Название Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang
Автор произведения Johann Gottfried Herder
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 4064066398903



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ersetzt bey Homer die Unwissenheit der Kunstregeln, die ein Aristoteles nach ihm erdacht, und was bey einem Shakesspear die Unwissenheit oder Übertretung jener kritischen Gesetze? Das Genie ist die einmüthige Antwort. Sokrates hatte also freylich gut unwissend seyn; er hatte einen Genius, auf dessen Wissenschaft er sich verlassen konnte, den er liebte und fürchtete als seinen Gott, an dessen Frieden ihm mehr gelegen war, als an aller Vernunft der Egypter und Griechen, dessen Stimme er glaubte, und durch dessen Wind, (wie der erfahrne Wurmdoctor Hill uns bewiesen) der leere Verstand eines Sokrates so gut als der Schoos einer reinen Jungfrau, fruchtbar werden kann.

      Ob dieser Dämon des Sokrates nichts als eine herrschende Leidenschaft gewesen und bey welchem Namen sie von unsern Sittenlehrern geruffen wird, oder ob er ein Fund seiner Staatslist; ob er ein Engel oder Kobold, eine hervorragende Idea seiner Einbildungskraft, oder ein erschlichner und willkührlich angenommener Begrif einer mathematischen Unwissenheit; ob dieser Dämon nicht vielleicht eine Quecksilberröhre oder den Maschinen ähnlicher gewesen, welchen die Bradleys und Leuwenhoeks ihre Offenbarungen zu verdanken haben; ob man ihn mit dem wahrsagendem Gefühl eines nüchternen Blinden oder mit der Gabe aus Leichdornen und Narben übelgeheilter Wunden die Revolutionen des Wolkenhimmels vorher zu wissen, am bequemsten vergleichen kann: hierüber ist von so vielen Sophisten mit so viel Bündigkeit geschrieben worden, daß man erstaunen muß, wie Sokrates bey der gelobten Erkenntniß seiner Selbst, auch hierinn so unwissend gewesen, daß er einem Simias darauf die Antwort hat schuldig bleiben wollen. Keinem Leser von Geschmack fehlt es in unsern Tagen an Freunden von Genie, die mich der Mühe überheben werden weitläuftiger über den Genius des Sokrates zu seyn.

      Aus dieser sokratischen Unwissenheit flüssen als leichte Folgen die Sonderbarkeiten seiner Lehr- und Denkart. Was ist natürlicher, als daß er sich genöthigt sahe immer zu fragen um klüger zu werden; daß er leichtgläubig that, jedes Meynung für wahr annahm, und lieber die Probe der Spötterey und guten Laune als eine ernsthafte Untersuchung anstellte; daß er alle seine Schlüsse sinnlich und nach der Ähnlichkeit machte; Einfälle sagte, weil er keine Dialectick verstand; gleichgültig gegen das, was man Wahrheit hieß, auch keine Leidenschaften, besonders diejenigen nicht kannte, womit sich die Edelsten unter den Atheniensern am meisten wusten; daß er wie alle Idioten, oft so zuversichtlich und entscheidend sprach, als wenn er, unter allen Nachteulen seines Vaterlandes, die einzige wäre, welche der Minerva auf ihrem Helm säße – – Es hat den Sokraten unsers Alters, den kanonischen Lehrern des Publicums und Schutzheiligen falsch berühmter Künste und Verdienste noch nicht glücken wollen, ihr Muster in allen süssen Fehlern zu erreichen. Weil sie von der Urkunde seiner Unwissenheit unendlich abweichen; so muß man alle sinnreichen Lesearten und Glossen ihrs antisokratischen Dämons über unsers Meisters Lehren und Tugenden als Schönheiten freyer Übersetzungen bewundern; und es ist eben so mislich ihnen zu trauen als nachzufolgen.

      Jetzt fehlt es mir an dem Geheimnisse der Palingenesie, das unsere Geschichtschreiber in ihrer Gewalt haben, aus der Asche jedes gegebenen Menschen und gemeinen Wesens eine geistige Gestalt heraus zu ziehen, die man einen Charakter oder ein historisch Gemälde nennt. Ein solches Gemälde des Jahrhunderts und der Republik, worinn Sokrates lebte, würde uns zeigen, wie künstlich seine Unwissenheit für den Zustand seines Volkes und seiner Zeit, und zu dem Geschäfte seines Lebens ausgerechnet war. Ich kann nichts mehr thun als der Arm eines Wegweisers und bin zu hölzern meinen Lesern in dem Laufe ihrer Betrachtungen Gesellschaft zu leisten.

      Die Athenienser waren neugierig. Ein Unwissender ist der beste Arzt für diese Lustseuche. Sie waren, wie alle neugierige, geneigt mitzutheilen; es muste ihnen also gefallen, gefragt zu werden. Sie besassen aber mehr die Gabe zu erfinden und vorzutragen, als zu behalten und zu urtheilen; daher hatte Sokrates immer Gelegenheit ihr Gedächtnis und ihre Urtheilskraft zu vertreten, und sie für Leichtsinn und Eitelkeit zu warnen. Kurz, Sokrates lockte seine Mitbürger aus den Labyrinthen ihrer gelehrten Sophisten zu einer Wahrheit, die im Verborgenen liegt, zu einer heimlichen Weisheit, und von den Götzenaltären ihrer andächtigen und staatsklugen Priester zum Dienst eines unbekannten Gottes. Plato sagte es den Atheniensern ins Gesicht, daß Sokrates ihnen von den Göttern gegeben wäre sie von ihren Thorheiten zu überzeugen und zu seiner Nachfolge in der Tugend aufzumuntern. Wer den Sokrates unter den Propheten nicht leiden will, den muß man fragen: Wer der Propheten Vater sey? und ob sich unser Gott nicht einen Gott der Heyden genannt und erwiesen?

      Dritter Abschnitt.

       Inhaltsverzeichnis

      Sokrates soll drey Feldzüge mitgemacht haben. In dem ersten hatte ihm sein Alcibiades die Erhaltung des Lebens und der Waffen zu danken, dem er auch den Preis der Tapferkeit, welcher ihm selbst zukam, überließ. In dem zweyten wich er wie ein Parther, fiel seine Verfolger mitten im Weichen an, theilte mehr Furcht aus, als ihm eingejagt wurde und trug seinen Freund Xenophon, der vom Pferde gefallen war, auf den Schultern aus der Gefahr des Schlachtfeldes. Er entgieng der grossen Niederlage des dritten Feldzuges eben so glücklich wie der Pest, die zu seiner Zeit Athen zweymal heimsuchte.

      Die Ehrfurcht gegen das Wort in seinem Herzen, auf dessen Laut er immer aufmerksam war, entschuldigte ihn Staatsversammlungen beizuwohnen. Als er lange genung glaubte gelebt zu haben, bot er sich selbst zu einer Stelle im Rath an, worinn er als Mitglied, Altermann und Oberhaupt gesessen, und wo er sich mit seiner Unschicklichkeit in Sammlung der Stimmen und andern Gebräuchen lächerlich, auch mit seinem Eigensinn, den er dem unrechten Verfahren einer Sache entgegen setzen muste, als ein Aufrührer verdächtig gemacht haben soll.

      Sokrates wurde aber kein Autor, und hierinn handelte er übereinstimmig mit sich selbst. Wie der Held von der Leuctrischen Schlacht keine Kinder nöthig hatte; so wenig brauchte Sokrates Schriften zu seinem Gedächtnisse. Seine Philosophie schickte sich für jeden Ort und zu jedem Fall. Der Markt, das Feld, ein Gastmal, das Gefängnis waren seine Schulen; und das erste das beste Quodlibet des menschlichen Lebens und Umganges diente ihm den Saamen der Wahrheit auszustreuen. So wenig Schulfüchserey er in seiner Lebensart beschuldigt wird, und so gut er auch die Kunst verstand die besten Gesellschaften selbst von jungen rohen Leuten zu unterhalten, erzählt man gleichwol von ihm, daß er ganze Tage und Nächte unbeweglich gestanden, und einer seiner Bildsäulen ähnlicher als sich selbst gewesen. Seine Bücher würden also vielleicht wie diese seine Soliloquien und Selbst-Gespräche ausgesehen haben. Er lobte einen Spatziergang als eine Suppe zu seinem Abendbrodt; er suchte aber nicht wie ein Peripatetiker die Wahrheit im Herumlaufen und hin- und hergehen.

      Daß Sokrates nicht das Talent eines Scribenten gehabt, liesse sich auch aus dem Versuche argwohnen, den er in seinem Gefängnisse auf Angabe eines Traums in der lyrischen Dichtkunst machte. Bey dieser Gelegenheit entdeckte er in sich eine Trockenheit zu erfinden, der er mit den Fabeln des Äsops abzuhelfen wuste. Gleichwol gerieth ihm ein Gesang auf den Apoll und die Diana.

      Vielleicht fehlte es ihm auch in seinem Hause an der Ruhe, Stille und Heiterkeit, die ein Philosoph zum Schreiben nöthig hat, der sich und andere dadurch lehren und ergötzen will. Das Vorurtheil gegen Xantippe, das durch den ersten Claßischen Autor unserer Schulen

      Xantippe war ein' arge H – –

       und 10 mal 10 macht hundert nur.

      Sokrates soll in der Bigamie gelebt haben; Xantippe die Mutter des Lamprocles, und Myrto (welche ihm Gesner abspricht) die Mutter des Sophroniscus und Menexenus gewesen seyn.

       ansteckend und tief eingewurzelt worden, hat durch die Acta Philosophorum nicht ausgerottet werden können, wie es zum Behuf der Wahrheit und Sittlichkeit zu wünschen wäre. Unterdessen müssen wir fast ein Hauscreutz von dem Schlage annehmen, um einen solchen Weisen als Sokrates zu bilden. Die Reitzbarkeit seiner Einfälle konnte vielleicht aus Mangel und Eckel daran von Xantippen nicht behänder gedämpft werden als durch Grobheiten, Beleidigungen und ihren Nachtspiegel. Einer Frau, welche die Haushaltung eines Philosophen führen, und einem Mann, der die Regierungsgeschäfte unvermögender Großviziere verwalten soll, ist freylich die Zeit zu edel, Wortspiele zu ersinnen und Blumen zu