Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder

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Название Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang
Автор произведения Johann Gottfried Herder
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 4064066398903



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      Gaddo. Geträumt? Possen! Fühl ich's denn etwa nicht, daß ich satt bin? Und vor kurzem hungerte mich noch so sehr!

      Anselmo. Recht so habe ich von Leuten gehört, die aus Hunger geträumt hatten, sie äßen, und beim Erwachen hungerte sie nicht. Ich wünsche dir Glück zu deinem Traum; auch zweifle ich keines weges an der guten Vorbedeutung. Wenn du nicht gegessen hast, Gaddo, so bist du doch auf dem Wege zu essen. Du weißt, daß es Francesco gelungen ist, uns vielleicht noch in dieser Nacht zu befreien.

      Gaddo. Ich? ich weiß kein Wort davon.

      Anselmo. Du sagtest mir eben itzt, daß du es wüßtest.

      Gaddo. Sagte ich's? Ja, so ist's offenbar, daß ich nur geträumt habe. Ich dummer Gaddo! Fast möcht ich weinen.

      Anselmo. Warum weinen? Hörst du denn nicht, kleiner Träumer, daß du noch in dieser Nacht essen sollst?

      Gaddo. Ist der Thurmwärter wieder da? Der gute Thurmwärter! Wo ist er? Ich sehe ihn nicht.

      Anselmo. Nicht der Thurmwärter, sondern Francesco, bringt Speise und Trank, und Freiheit und Freude.

      Gaddo. Wenn's nur gebracht wird! Zwar von Francescos Hand wird es mir noch besser schmecken. Ich liebe Francesco sehr.

      Anselmo. Du haftest noch überall an der Schüssel. Francesco bringt nicht bloß Speise, sondern Freiheit.

      Gaddo. Was geht mich Freiheit an! Hab ich doch zu essen!

      Anselmo. Welch ein Gedanke! Gehn dich die aromatischen Blumenfelder, geht dich die Villa Gherardesca, geht dich der neue Himmel, die neue Sonne, die neue Erde nichts an?

      Gaddo. Nichts, Anselmo; ich esse.

      Anselmo. Unersättlicher! du issest? – Nichts die luftige Grotte? Nichts die weißschäumende Zisterne? Nichts die kristallnen Forellbäche?

      Gaddo. Ah! die Forellbäche!

      Anselmo. Nichts der gesangvolle Park, der stillere See, die jähen Ufer, vom Getön der Gondeln hallend, das Scherzen der vorüberhüpfenden Rudel, der brausende Auerhahn, die zirpenden Weinvögel, Heidelerchen, und Ortolane, der Fasan, die Turteltaube vor dir her, und unter dir die leichte Sardelle, die Alose, der Goldfisch, die schmelzende Lamprete –

      Gaddo. (hält ihm den Mund zu) Sprich nicht mehr davon, Anselmo; du hast mich ganz.

      Anselmo. O Gaddo! mein Gaddo! mein geliebter Gaddo! stelle dir die Wonne, das Entzücken vor!

      Gaddo. Ach! so lebhaft!

      Anselmo. Wir baden unter dem blumigten Abhange im Silberquell; sieh! die langen Aale schweben im Schatten der Weinrebe; und nun schlüpfen sie dahin! schneller schlüpfen sie dahin, als der Schilfpfeil von der Darmsenne!

      Gaddo. Laß mich! laß mich!

      Anselmo. Was gibt's?

      Gaddo. Ich will ihnen nachschwimmen. Ich will sie einholen.

      Anselmo. Hab ich dich, Schalk? Gut! unsre Mutter kömmt. Die edle Mutter!

      Gaddo. Die freundliche Mutter!

      Anselmo. »Anselmo!« ruft sie. »Gaddo!« ruft sie. Halb zitternd.

      Gaddo. Warum zittert sie?

      Anselmo. In ebendiesem Bade zog unsern Bruder Francesco ein zuckender Krampf unters Wasser bis zur Tiefe. Sie warf ihm einen Kastanienast nach; sonst war er verloren.

      Gaddo. Die gütige Mutter! Sie liebt uns auch, Anselmo.

      Anselmo. Allerdings; eben darum zittert sie. Wir pflücken purpurne Waldblumen jenseits am Ufer, und binden ihr einen Kranz, von Zypressenlaub umwunden. Lächelnd nimmt sie den Kranz, und drückt ihn mir auf die Stirne.

      Gaddo. Nein, mir.

      Anselmo. Nicht doch, Gaddo; ich habe ihn ja geflochten.

      Gaddo. Und ich die Blumen gesammelt.

      Anselmo. Gut! wir wollen ihrer zwei machen. Aus Freude sing ich ihr ein Frühlingslied in die Laute.

      Gaddo. Und ich zeichne ihr einen dritten bessern Kranz von Amaranthen, Anemonröschen, Tausendschön, und Stockrosen.

      Anselmo. Weg mit den Stockrosen!

      Gaddo. Weg mit den Stockrosen? Ich sage dir, es gehört Kunst dazu, eine Stockrose zu malen.

      Anselmo. Und ich sage dir, weg mit den Stockrosen! Stockrosen in einen Kranz? Unser Vater macht sich unterdessen zum Herrn von Pisa. Er versteht sich aufs Herrschen.

      Gaddo. Ja, und es ist süß, kann ich dir sagen, von unserm Vater beherrscht zu werden. »Geh nicht dorthin«, spricht er, »du fällst; tritt nicht gegen die Flamme, Gaddo, sie brennt.« Unter uns, man geht am sichersten, wenn man ihm gehorcht.

      Anselmo. Da schenkt er uns dann irgendein Ländchen von einer nicht geringen Strecke in die Länge und in die Breite, um Federvieh und Kaninchen zu unterhalten.

      Gaddo. Sind auch Wälder dabei?

      Anselmo. Ohne Zweifel. Die aber behalt ich für mich, der Rehe wegen. Du weißt, daß ich ein Liebhaber von Rehen bin.

      Gaddo. Und ich von Nestern. Ich eigne mir die Nester darin zu.

      Anselmo. In meinem Holze?

      Gaddo. Mein oder dein: im Holze.

      Anselmo. Es ist wider die Ordnung, Gaddo. In mein Holz mußt du mir nicht kommen.

      Gaddo. Ich nicht in dein Holz kommen?

      Anselmo. Nein, Gaddo, keinen Fuß breit, außer wenn ich dir's erlaube.

      Gaddo. Wer will mir's wehren? Ich gehe hinein.

      Anselmo. Ich laß es einhegen.

      Gaddo. Ich steige über.

      Anselmo. Über mein Gehege?

      Gaddo. Über dein Gehege.

      Anselmo. (erhitzt) Was? über mein Gehege wolltest du steigen?

      Gaddo. Ohne Umstände.

      Anselmo. Eher will ich unter Heiden und Sarazenen wohnen, als diese Ungerechtigkeit dulden.

      Gaddo. (bewegt) Anselmo!

      Anselmo. Reize mich nicht. Ich bin zornig.

      Gaddo. Anselmo!

      Anselmo. Laß mich.

      Gaddo. Nimm die Nester denn nur: ich mag sie nicht.

      Anselmo. Wie? die Nester?

      Gaddo. Nein, Anselmo, es tut mir leid, daß du die Wälder bloß meinetwegen einhegen sollst. Ich bin ein Liebhaber von Nestern: aber ich liebe dich mehr, Anselmo.

      Anselmo. Großmütiger Gaddo! Wie du mich rührst, Gaddo! Du schenktest mir die Nester; ich aber verbot dir, in mein Holz zu kommen. Nein, Gaddo, behalt die Nester, nimm die Rehe dazu, nimm die Wälder –

      Gaddo. Du beschämst mich, Anselmo! Ferne sei es von mir –

      Anselmo. Ich bitte, ich flehe, ich beschwöre dich!

      Gaddo. Niemals, niemals –

      Anselmo. O du brüderliche Zärtlichkeit! (Fällt ihm um den Hals und weint. Sie weinen beide)

      Ugolino. (tritt auf) Ja wohl brüderliche Zärtlichkeit! Welch ein holder Anblick! O ihr teuren Zartfühlenden beide! ihr weint?

      Gaddo. Lauter Freude!

      Ugolino. Du warst doch vorher nicht eben freudig.

      Gaddo. Aber itzt bin ich's, mein Vater: denn nun Francesco entsprungen ist, haben wir ja Essen die Fülle. Haben wir nicht?

      Anselmo. Pisch!

      Ugolino. Francesco entsprungen! Was sagst du, Gaddo?

      Anselmo. (zupft Gaddo, und droht ihm) Hm!

      Ugolino. Unmöglich! Wo ist Francesco?

      Gaddo.