Kleine politische Schriften. Walter Brendel

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Название Kleine politische Schriften
Автор произведения Walter Brendel
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783966511858



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setzt aber gleiche Interessen aller Gesellschaftsglieder voraus, während jetzt die Interessen der Gesellschaftsglieder sehr verschiedenartige, einander widerstreitende sind. Ein abstraktes oder absolutes, unbedingtes Recht, von dem unsere Philosophen faseln, gibt es nicht; jeder Mensch, jeder Stand, jede Klasse hat sein, hat ihr eigenes Recht; und in jedem Fall ist das Recht bei Lichte betrachtet nichts anderes als der Ausdruck des Interesses; das Recht des Junkers ist das Interesse des Junkers, das Recht des Bourgeois das Interesse des Bourgeois, das Recht des Arbeiters das Interesse des Arbeiters. Wird der Arbeiter Bourgeois, was freilich höchst selten vorkommt, obgleich unsere Gegner behaupten, es stände in der Macht eines jeden Arbeiters – es müssen sonderbare Schwärmer sein, diese Arbeiter, sich freiwillig zum Elend zu verurteilen und sich abzurackern von morgens früh bis spät in die Nacht, aus purem Privatvergnügen! –, geschieht einmal das Wunder, daß ein Arbeiter Bourgeois wird, so ist hundert gegen eins zu wetten, daß er das »Arbeiterrecht« ablegt und das »Bourgeoisrecht« anzieht; wird ein Bourgeois in den Adelsstand erhoben, so schwärmt er plötzlich für das »Adelsrecht« usw. Interesse und Recht sind bloß verschiedene Bezeichnungen desselben Dinges. Wenn der Kongreß erklärt: die Gesellschaft hat das Recht, das Grundeigentum zu Gemeineigentum zu machen, so heißt das präziser ausgedrückt: der Kongreß ist der Ansicht, daß das Interesse der Gesellschaft die Verwandlung des Grund und Bodens in Gemeineigentum erheischt. Und in diese Fassung war zugleich die zweite Resolution eingeschlossen; denn das Interesse der Gesellschaft ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit, wie es nach gewöhnlicher Phrase ein Recht der Gesellschaft ist.

      Doch das ist Formsache. Über den Inhalt und die Tragweite der Beschlüsse kann kein Zweifel obwalten. Der Kongreß erklärt, daß er die Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden und die Verwandlung desselben in Gemeineigentum für eine gesellschaftliche Notwendigkeit hält.

      Der Kongreß stellt damit einen Grundsatz auf, erläßt aber keinen Ukas. Er spricht eine Konsequenz der sozialistischen Anschauung aus, dekretiert aber nicht Maßregeln zur Verwirklichung dieser Konsequenz. Kurz, die Baseler Beschlüsse sind wesentlich theoretischer Natur und haben keinen unmittelbaren praktischen Charakter. Das haben die Gegner entweder übersehen oder nicht sehen wollen. Sie tun, als ob in Basel die sofortige Depossedierung sämtlicher Landbesitzer angeordnet worden sei und nun jeder Grundbesitzer darauf gefaßt sein müsse, jeden Moment den Besuch eines internationalen Hänge-Gendarmen mit feuerroter Bluse und Hahnenfeder zu empfangen, der ihm die angenehme Wahl stellt, entweder sofort gutwillig von Haus und Hof zu ziehen oder am nächsten besten Haken oder Baumast aufgeknüpft zu werden. Das absichtliche oder unabsichtliche Mißverständnis wäre zum Lachen, wenn es nicht so gefährlich wäre. An diesem Mißverständnis ist die französische Februarrepublik zugrunde gegangen, und dieses Mißverständnis kann der Volksbewegung in Deutschland unsagbaren Schaden zufügen, wenn ihm nicht zeitig gesteuert wird.

      Den Urhebern und Kolporteuren des Mißverständnisses, insbesondere den sich »demokratisch« nennenden, will ich bloß die Frage vorlegen, ob sie uns für Tollhäusler halten. Und wenn, wie sie sich vor solchen Tollhäuslern fürchten können, die, ohne daß die gewöhnliche Gendarmerie um einen Mann verstärkt zu werden brauchte, von den Bauern selbst eingefangen und, mancher mit blauen Malen bedeckt, in das Landesgefängnis oder das Landesirrenhaus würden abgeliefert werden, welche letztere Versorgung gewiß ganz in der Ordnung wäre! Fürwahr, die Angst macht kindisch!

      Statt altweibergleich zu kreischen und sich die Hand vor die Augen zu halten, zeige man doch etwas männliche Besonnenheit, stelle das Zetern ein und öffne vor allem die Augen, um das Schreckensgespenst zu betrachten!

      Es gibt keine Gespenster! haben wir schon in der untersten Schulklasse gelernt. Und doch haben wir erwachsene, sich nicht bloß gebildet nennende, nein sogar die Verbreitung der Bildung geschäfts- und berufsmäßig treibende Personen, die in bezug auf die soziale Frage der lächerlichsten Gespensterfurcht huldigen, diese auch anderen einzuflößen beflissen sind und Staatshilfe gegen das von ihnen selbst geschaffene Gespenst anrufen. Gegen Gespenster hilft keine Polizei, da hilft nur Wissenschaft, nur Erkenntnis. Fassen wir das Gespenst ins Auge, betrachten wir es mit dem forschenden Blick der Kritik, und es wird sich in sein Nichts auflösen.

      Machen wir uns zunächst den gegenwärtigen Stand der Grund- und Bodenverhältnisse klar. Ist derselbe ein befriedigender oder nicht? Ist er befriedigend, das heißt, sind die heutigen Grund- und Bodenverhältnisse im Einklang mit den Interessen der Gesellschaft, ihnen förderlich, dann haben wir überhaupt keine Grund- und Bodenfrage, und diejenigen, welche sich vermessen wollten, an diesen Verhältnissen zu rütteln, würden es mit dem nämlichen Erfolg tun wie das Kind, welches nach dem Mond greift, um ihn vom Himmel herunterzuholen. Ist dagegen der Stand der Grund- und Bodenverhältnisse nicht befriedigend, das heißt nicht im Einklang mit den Interessen der Gesellschaft, läßt es sich nachweisen, daß unsere heutigen Grund- und Bodenverhältnisse den Interessen der Gesellschaft, dem Gemeinwohl, den Kulturaufgaben der Menschheit, der Humanität und Gerechtigkeit zuwiderlaufen – wohlan, dann erheischen die Interessen der Gesellschaft eine Reform der Grund- und Bodenverhältnisse; wem die Interessen der Gesellschaft am Herzen liegen, der muß eine solche Reform wünschen, für sie wirken; und wer sich ihr entgegenstemmt, ist ein gemeinschädliches Individuum, ist ein Feind der Gesellschaft, dem es, sei seine Stellung welche sie wolle – und kommandiere er Hunderttausende von Bajonetten – nimmermehr gelingen wird, die im Interesse der Gesellschaft notwendige Umgestaltung zu verhindern.

      Jetzt zur Sache.

      Die zwei in der heutigen bürgerlichen Welt einzig möglichen Landsysteme – Pol und Gegenpol der Landfrage –, das System des Privatkleingrundbesitzes (Parzellensystem) und das System des Privatgroßgrundbesitzes, sind, mit einer charakteristischen internationalen Teilung der Arbeit in den beiden ökonomisch entwickeltesten Kulturländern, jenes in Frankreich, dieses in England, wahrhaft klassisch verwirklicht, und zwar noch nicht zu den allerletzten Konsequenzen, aber doch so weit durchgeführt worden, daß die letzten Konsequenzen klar und deutlich vor jedem daliegen, der Augen hat zu sehen.

      [...] Bei vernünftigen gesellschaftlichen Einrichtungen würde England gleich den übrigen Kulturländern ein Paradies für alle seine Bewohner sein können. Und jetzt? Von 30 Millionen Engländern höchstens 1 Million im Wohlstand, zum Teil im überschwenglichsten, unnatürlichsten Reichtum lebend; eine zweite Million in den Armenhäusern auf dem sozialen Kehrichthaufen verfaulend, wie wertloses Gerümpel in die Ecke gefegt von dem Stahlbesen der »freien Konkurrenz«; und die übrigen 28 Millionen, darunter 2 œ Millionen Halbpaupers, sich abschindend, um jene 2 Millionen freiwilliger und unfreiwilliger Müßiggänger, die ersteren in ihrem Luxus, die letzteren in ihrem Elend zu erhalten – läßt sich der Aberwitz, die greuliche Mißwirtschaft der in England auf den höchsten Gipfel gelangten bürgerlichen Gesellschaftsordnung schärfer verurteilen, blutiger geißeln?

      Nach einer mir vorliegenden Berechnung könnte England, gegenwärtig von allen Großstaaten der dichtestbevölkerte (es enthält 8384 Einwohner auf die Quadratmeile), bei rationeller Bewirtschaftung schon jetzt das Achtfache seiner heutigen Bevölkerung ernähren, nämlich 200 Einwohner auf je 100 Acker, anstatt bloß 26, von denen obendrein je einer ein erklärter Pauper ist – im ganzen 184 Millionen statt 23. Der bekannte englische Geschichtsschreiber Alson kommt in seinem Werk »Über die Bevölkerung« zu einem ähnlichen Resultat; er meint, England könne bequem 180 Millionen ernähren und die gesamte Erde mindestens 6600 Millionen, das Sechsfache der jetzigen Anzahl. In bezug auf letztere Berechnung bleibt er unzweifelhaft hinter der Möglichkeitsziffer zurück, da zum Beispiel der kolossale Kontinent von Afrika, wenn einmal der Kultur erschlossen, mindestens für das Hundertfache der heutigen Bevölkerung ausreicht. Ein anderes Zeugnis. Herr Mechi, ein namhafter englischer Agronom (Landwirt), Bourgeois vom Scheitel bis zur Sohle, hat ausgerechnet, daß, wenn der Boden in ganz England so bebaut würde, wie er seit Jahren seine Musterfarm in Tiptree bebaut, der Ertrag der 44 œ Millionen Acker englischen Landes von 170 000 000 Pfd. St. jährlich auf 534 000 000 Pfd. St. erhöht würde, also eine Steigerung des Produktes um mehr als das Dreifache.

      Wir sehen daraus, daß die intensive Privatgroßproduktion im Ackerbau, welche in England besteht, obschon weit ergiebiger als die ackerbauliche Kleinproduktion, doch lange nicht den Ertrag gibt, welchen eine durchaus vernünftig organisierte Produktion gäbe. Der Privatgrundbesitz hat eben