Erwerb der deutschen Pluralflexion. Gülsüm Günay

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Название Erwerb der deutschen Pluralflexion
Автор произведения Gülsüm Günay
Жанр Документальная литература
Серия Language Development
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823300243



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      Eine Übersicht aller Ausnahmen ist in Kissling (1960: 22ff.) und Ersen-Rasch (2004: 10ff.) zu finden. In Anlehnung an die Vorgehensweise bei der Beschreibung des deutschen Kasussystems soll im Folgenden ebenfalls nur auf die Merkmale Nominativ, Akkusativ und Dativ eingegangen werden, da der Genitiv beim kindlichen Spracherwerb nur sehr selten Betrachtungsgegenstand ist.

      Welche Funktionen erfüllen diese Merkmale des Kasussystems in der türkischen Sprache? Bei der Beantwortung dieser Frage sind deutlich mehr Gemeinsamkeiten des türkischen und deutschen Kasussystems festzustellen als im Numerus oder Genus. Denn auch im Türkischen erfüllen die Kasussuffixe die Funktion, des „most productive way to express syntactic functions of noun phrases“ (Kornfilt 2000: 212, zum Deutschen siehe Wegener 1995b: 120ff.). Die Tabelle 11 zu den semantischen Rollen in der deutschen Kasusmarkierung gilt auch für das Türkische (vgl. hierzu Kornfilt 2000: 212).

      Es ist festzuhalten, dass die Kasusmarkierungen im Türkischen „salient und transparent“ (Lemke 2008: 119) sind und das türkische Kasussystem „fast ohne homonyme Formen auskommt“ (ebd.), sowie auch ihre Zuweisung klare Regeln aufweist. Da im Türkischen keine Artikel existieren und das attributive Adjektiv3 im Türkischen nicht flektiert wird, es also keine Markierung dieser Kategorien gibt, können deren Markierungen auch nicht wie im Deutschen dargestellt werden.

      3.4 Zusammenfassung

      In den letzten Kapiteln wurden die Ausprägungen der Merkmalklassen Numerus, Genus und Kasus im Türkischen beschrieben. Dabei lag der Fokus, wie bei der Beschreibung der Ausprägungen dieser Kategorien im Deutschen, auf der Markierung, auf den Funktionen, die diese Markierungen übernehmen und auf den dabei beobachtbaren Gesetzmäßigkeiten. Diese Aspekte wurden, soweit dies möglich war, mit Bezug zum Deutschen erörtert und beschrieben. Der Vergleich des deutschen Numerus-, Genus- und Kasussystems mit dem türkischen System zeigt, dass große Unterschiede auf nahezu allen Ebenen existieren.

      Auch wenn das Türkische wie das Deutsche die zwei Numeri Singular und Plural aufweist, unterscheidet sich das Numerussystems des Türkischen erheblich von dem deutschen Numerussystem, insbesondere im Hinblick auf die Pluralmarkierung, aber auch hinsichtlich der semantischen Konzepte, die im Bereich der Pluralbildung existieren und angewendet werden. Während im Deutschen die Pluralmarkierung in neun verschiedenen Variationen erfolgen kann, gibt es im Türkischen nur das Pluralsuffix -ler/ -lar, das je nach vorangehendem Vokal an das Nomen angepasst und suffigiert wird. Die Markierung ist zudem in vielen Kontexten nicht unbedingt obligatorisch. Die semantischen Konzepte, die eine Markierung bedingen, unterscheiden sich oft maßgebend von dem Markierungsverhalten deutscher Nomen.

      In Kontexten, in denen eine Markierung am Nomen im Deutschen obligatorisch ist, wird im Türkischen keine Markierung vorgenommen, wie zum Beispiel wenn ein Zahlwort vor dem Nomen steht:

(67)Burada üç koyun-Ø var.DEM-LOK drei Schaf-Ø geb‚Hier gibt es drei Schaf-e.‘

      Andererseits sind auch Fälle zu beobachten, in denen Nomen in den Plural gesetzt werden, deren Pluralbildung im Deutschen nicht möglich ist, da sie nicht zählbar sind:

(68)Berlin de hava-lar nasıl?Berlin-LOK Wetter-PL wie‚Wie ist das Wetter in Berlin?‘

      (vgl. Ersen-Rasch 2004: 26)

      Dies ist mit den unterschiedlichen Funktionsübernahmemöglichkeiten des Numerus, den vorhandenen unterschiedlichen semantischen Konzepten in den beiden Sprachen zu erklären.

      Ein Vergleich konnte bezüglich des Genussystems der beiden Sprachen nicht erfolgen, da die türkische Sprache kein Genus hat. Im Türkischen sind lediglich einige Differenzierungen bezüglich des biologischen Geschlechtes vorzufinden, die kurz in Kapitel 3.2 skizziert wurden.

      Im Kasussystem des Türkischen hingegen sind Gemeinsamkeiten mit dem deutschen Kasussystem, insbesondere im Hinblick auf die Funktionen der Kasus, festzustellen. Im Türkischen gibt es nicht vier sondern sechs bzw. sieben Kasus. Neben Nominativ, Akkusativ, Dativ und Genitiv existieren die Merkmale Lokativ und Ablativ und nach Ansicht einiger Grammatiker noch das Merkmal Instrumental.

      Die Kasusmarkierungen im Türkischen richten sich nach den Gesetzmäßigkeiten der Vokalharmonie und gelten nahezu ausnahmslos. Ausnahmen sind bei der Flexion von Fremd- und Lehnwörtern zu finden.

      Da im Türkischen keine Artikel existieren und das in der vorliegenden Arbeit betrachtete attributive Adjektiv nicht flektiert wird, erfolgte nur eine Betrachtung der Markierung am Nomen.

      

      Teil II Zum Spracherwerb

       „Was ist das?

       – Ein Schaf.

       Und hier sind ganz viele …?

       – Ganz viele Schäfe.“

      (Gesprächsausschnitt aus Experiment 6 mit einem 7-jährigen DaZ-Kind)

      Woher weiß das Kind, dass es etwas an Schaf ändern muss, wenn mehrere Exemplare hiervon vorliegen? Warum markiert das Kind manche Wörter, wenn es Pluralität erkennt, und lässt bei anderen Wörtern jegliche Markierung weg? Welche Prozesse laufen im mentalen Lexikon ab? Welche Faktoren können diese Prozesse wie beeinflussen? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich die Spracherwerbsforschung. Sowohl Neurowissenschaftler als auch Pädagogen und Linguisten bemühen sich um geeignete Methoden, um mit Hilfe von Studien, die die produzierte Sprache und den Vorgang der Produktion untersuchen, den Antworten dieser Fragen näher zu kommen.

      In diesem Teil werden zunächst wichtige Begriffe geklärt und die Rolle des Alters beim Zweitspracherwerb thematisiert. Zudem erfolgt eine Skizzierung der Strömungen, die in der Linguistik zur Erklärung von Spracherwerbsprozessen formuliert worden sind, um überprüfen zu können, welche Annahmen und Modelle sich nach einer Analyse für eine Beschreibung eignen bzw. als nicht geeignet anzusehen sind.

      Im fünften Kapitel werden die wichtigsten Ergebnisse zum Erst- und Zweitspracherwerb der deutschen Nominalflexion zusammenfassend dargestellt, die im Rahmen von Studien zum Numerus-, Genus- und Kasuserwerb formuliert wurden. Anschließend werden die daraus zu folgernden Fragestellungen und Hypothesen formuliert, die im empirischen Teil der Arbeit untersucht werden.

      

      4 Der Zweitspracherwerb

      4.1 Zur Begriffsklärung

      Die Sprache, mit der Kinder von Anfang an aufwachsen, die oft als „Muttersprache“ bezeichnete Sprache, ist die Erstsprache (siehe dazu Meisel 2011: 1ff. und Ahrenholz 2010a: 3f.). Erwirbt das Kind von Anfang an zwei Sprachen, beispielsweise wenn Mutter und Vater sich in verschiedenen Sprachen mit dem Kind unterhalten, handelt es sich um simultan bilingualem Erstspracherwerb (siehe hierzu Genesee/Paradis/Crago 2011: 59ff.). Das Wort „Bilingualität“ wird jedoch oft unterschiedlich verwendet:

      „Bilingualität (bzw. Multilingualität) kann mit Zweisprachigkeit (bzw. Mehrsprachigkeit) übersetzt werden. Einerseits wird Bilingualität als Überbegriff für alle Formen von Mehrsprachigkeit verwendet. Andererseits hat sich in der neueren Literatur durchgesetzt, von bilingualem Spracherwerb nur dann zu sprechen, wenn ein Kind zwei (oder mehr) Sprachen simultan erwirbt.“ (Rothweiler 2007: 106)1

      Wird die zweite Sprache erst dann erworben, „wenn die Muttersprache bereits ganz oder teilweise gemeistert ist“ (Felix 1982: 10), wird diese Form des Erwerbs als „sukzessiver“ (Meisel 2007: 99) Zweitspracherwerb bezeichnet.

      Auch diesen Begriff gilt es weiter zu differenzieren. Zu unterscheiden ist vor allem zwischen dem frühen bzw. kindlichen Zweitspracherwerb und dem Erwerb