Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht. Группа авторов

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Название Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht
Автор произведения Группа авторов
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783823301905



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(Terkessidis 2010: 118 f.).

      Zum öffentlichen Raum in Deutschland gibt es eine umfangreiche Literatur. Hier wird deutlich, dass der Umgang mit dem öffentlichen Raum, seine Gestaltung und Nutzung weder einheitlich noch zufällig oder neutral sind (vgl. Bernhard 2016). Alles was im öffentlichen Raum wahrgenommen wird oder im Verborgenen wirkt, ist Ergebnis „lange(r) Auseinandersetzungen, die auch mit den Mitteln des architektonischen Designs, also mit Symbolen geführt werden. Dabei geht es um sehr viel. Wer das Bild eines Raumes und die Regeln, die darin gelten, bestimmt, der entscheidet auch darüber, wer zu diesem Raum zugelassen wird.“ (Siebel 2016: 72) Weil aber der öffentliche Raum per se permanent und für alle zugänglich bleiben sollte, werden Segregationskriterien entwickelt, die die Homogenität indirekt gewährleisten sollen. So gilt die Grundregel, dass niemand belästigt werden darf und es „sollen Ekel oder anstoßerregende Merkmale und Verhaltensweisen aus dem öffentlichen Raum herausgehalten werden. Es handelt sich um ein Prinzip mit hohem Diskriminierungspotential, denn Menschen können auf zwei Weisen gegen es verstoßen: erstens wenn sie unter bestimmten Stigmata leiden … wie körperliche Behinderung und Hautfarbe, oder als Träger sozialer Merkmale, auf die sie keinen Einfluss haben“ (ebd.: 73 f.). Damit wird Exklusivität geschaffen und das Wesensmerkmal des öffentlichen Raums, nämlich die freie Zugänglichkeit, teilweise aufgehoben. Gleichzeitig wäre in globalisierten Zeiten die totale Kontrolle des öffentlichen Raums in einer liberalen und marktorientierten Gesellschaft kontraproduktiv für eben diese, und so kommt es dort trotz symbolischer oder konkreter Inklusionssperren doch zur kulturellen Vielfalt mit den zwangläufig dazu gehörenden Nutzungskonflikten (vgl. Kuhn et al. 2012: 203).

      Anonymität im öffentlichen Raum

      Der Grad der Anonymität im öffentlichen Raum nimmt mit der Größe des Ortes zu. In einem Dorf sind die sozialen Verflechtungen oft so eng, dass die Individuen sich selten als Unbekannte begegnen, sondern meistens als Menschen, deren Status als Angehörige einer bestimmten Familie oder als Teil eines Beziehungssystems zugewiesen bzw. bekannt sind. Das ist die Grundlage der sozialen Kontrolle, welche die Atmosphäre für das öffentliche Leben bestimmt. Kaum jemand kann sich im öffentlichen Raum eines Dorfes ungestraft den expliziten oder impliziten Regeln des Miteinanders widersetzen. Nicht so in der Stadt, in der die Anonymität charakteristisch für den öffentlichen Raum ist. Hier halten sich Menschen auf, begegnen sich, interagieren eventuell flüchtig miteinander, ohne sich zu kennen, ohne erkennbare Bindungen oder Verpflichtungen. Wir erfahren in der Regel über die optisch wahrnehmbaren Unterschiede hinaus wenig über die diversen Akteure im öffentlichen Raum. Wer sie sind, woher sie kommen, wo sie hinwollen, ihre Ziele und Absichten, alles ist offen, denn der öffentliche Raum steht allen Menschen zur Verfügung, mit den weiter oben erwähnten Einschränkungen ist er für alle Menschen zugänglich, es ist also gleichzeitig der Ort, in dem die ganze Vielfalt, welche die Menschen auszeichnet, sich begegnen kann und dies auch tut. Stadtsoziologisch spricht man hier von einer unvollständigen Integration (vgl. Bahrdt 1961: 39 ff.). Dies sagt nun nichts über den realen gesellschaftlichen Integrationsgrad der einzelnen Individuen, ob systemisch, kulturell, sozial oder identifikatorisch (siehe weiter oben), sondern nur, dass dieser Integrationsgrad sich nicht von selbst erschließt. Selbstverständlich haben alle Individuen, die sich im öffentlichen Raum begegnen, einen Status, sie sind im Sinne von Pierre Bourdieu (1979) mit diversen Kapitaltypen ausgestattet, haben also ein gewisses Bildungsniveau, besitzen bestimmte Kompetenzen und eine gewisse Kaufkraft, sie haben Familie und Freunde, sie verkehren in bestimmten Milieus, kurz, sie haben ein eigenes komplexes Leben, das man auf den ersten Blick selten erahnen kann. Die gesellschaftlichen Rollen der Akteure bleiben im öffentlichen Raum verborgen, es sei denn, Statusattribute werden durch Kleidung oder Accessoires symbolisch zur Schau gestellt, wie in Jugendkulturen, politischen Bewegungen oder Religionen immer wieder üblich. Ein Status kann sich auch durch diverse Handlungen wie betteln, musizieren, Flugblätter verteilen, teilweise oder umfassend vermitteln. Ein Gruppenauftritt gepaart mit starken symbolischen Signalen und spezifische Handlungen – ein Extrembeispiel wären die missionierenden Auftritten der religiösen Gruppe Hare-Krischna oder jede andere Art von Demonstration – ist wiederum die Affirmation einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit wie Glaube oder Ideologie der Teilnehmenden, hebt aber die Anonymität der Individuen dieser Gruppe keinesfalls auf, sondern verstärkt sie noch, da die Individuen in der Gruppe sozusagen identifikatorisch verschmelzen. Der Effekt, dass Außenstehende die Einzelnen in der Gruppe nur als Angehörige dieser Gruppe wahrnehmen und ihnen bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweise unterstellen, ist gewiss nicht diskriminierend, sondern von den Betroffenen beabsichtigt, es ist vielmehr der eigentliche Sinn der Veranstaltung.

      Kulturelle Begegnungen im öffentlichen Raum

      Bisher habe ich in meinem Beitrag versucht, die einzelnen Dimensionen, verborgene wie manifeste, zu beschreiben, die für die Begegnungen der Kulturen im öffentlichen Raum eine wichtige Rolle spielen. Diese Dimensionen sind auf Seiten der Akteure Habitus, kulturelle Ausprägung und Integration, auf Seiten des öffentlichen Raums Exklusions- und Inklusionsmechanismen durch Gestaltung, Funktion und Regeln. Auf der Metaebene schließlich sind die diversen Funktionssysteme der Gesellschaft wie Rechtsystem, Wirtschaft und politische Machtverhältnisse von Bedeutung. Die Komplexität des Zusammenspiels all dieser Dimensionen kann vielleicht durch eine graphische Darstellung reduziert werden. Die Graphikform ergibt sich geradezu zwingend aus der Ablehnung rein linearer Beschreibungen, die der Mehrdimensionalität des Phänomens, vor allem den Durchdringungsdynamiken der unterschiedlichen Dimensionen, nicht gerecht werden können. Mit diesem Modell kommen wir der Realität teilweise näher, weil damit erstens eine lineare Kausalität als Begründung für die hier beschriebenen Phänomene vermieden wird und zweitens die Überschneidungsmomente in den Mittelpunkt gestellt werden, die eher zum Verstehen von Dynamiken der Begegnung von Kulturen beitragen. Sinn der Übung ist weniger, eine präzise Analyse des Phänomens „Begegnungen der Kulturen im öffentlichen Raum“ zu liefern – dafür ist dieser Rahmen nicht ausreichend – als vielmehr das Gefühl der Komplexität einer jede Begegnung im öffentlichen Raum zu vermitteln, unabhängig davon wie einfach, belanglos oder unproblematisch diese Begegnungen erscheinen mögen.

      In diesem Abschnitt möchte ich die einzelnen Elemente der Graphik nur streifen, eine detaillierte Erläuterung wäre zu umfangreich. Lediglich auf drei Aspekte werde ich ausführlicher eingehen, da sie mir für unsere Fragestellung zentral erscheinen: die Ressourcen der Akteure im öffentlichen Raum, das Wirken der soziokulturellen Felder, in denen sie sich bewegen, und schließlich die Stimmung im öffentlichen Raum.

      Dimensionen kultureller Begegnungen im öffentlichen Raum

      Alles was im öffentlichen Raum stattfindet, geschieht in einem gesellschaftlichen Kontext, der für alle Akteure gleich ist. Das bedeutet nicht, dass auch die soziale Wirklichkeit der Akteure gleich ist. Dennoch stehen alle unter dem Einfluss der Funktionssysteme, die für die Integration der Gesellschaft sorgen. So steht das politische System für kollektiv bindende Entscheidungen, das Rechtssystem für die rechtsförmige Bearbeitung von Konflikten, das Wirtschaftssystem für die Minderung von Knappheit usw. (vgl. Krause 2001: 132).

      Die Funktionssysteme produzieren die Bedingungen, unter denen der öffentliche Raum organisiert und verwaltet wird. Die Zuständigkeit für Gestaltung, Regeln, Kontrolle und Atmosphäre des öffentlichen Raums wird an die Gemeinden bzw. die Körperschaften des öffentlichen Rechts delegiert. Aber „der städtischer Raum ist keine vorgegebene Wirklichkeit, sondern ein gelebter Ort, der für die Menschen in dem Maße bedeutsam wird, als sie mit dem Raum und einzelnen seiner Elemente bestimmte Bedeutungen verbinden. Je unterschiedlicher die Lebensweisen, desto unterschiedlichere Bedeutungen kann ein und derselbe Raum der Stadt annehmen“ (Siebel 2016: 22), und „die Straßen und Plätze der Städte [haben] eine eminent politische Funktion als Räume, in denen symbolische Kämpfe um soziale Anerkennung und um politische Macht ausgetragen werden“ (ebd.: 88).

      Im öffentlichen Raum selbst treffen sich aus unterschiedlichen Gründen die Akteure mit ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen, ihren diversen kulturellen Hintergründen, spezifischen Erfahrungen, Ressourcen, Bedürfnissen und Verhaltensweisen, Wünschen und Nöten, kurzum mit allem, was die menschliche Existenz ausmacht.