Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer. Suzann-Viola Renninger

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Название Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer
Автор произведения Suzann-Viola Renninger
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783038552383



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wohl in der Burg Roccasecca geboren, die auf halbem Weg zwischen Rom und Neapel liegt. Fünf- oder sechsjährig übergeben ihn seine Eltern den Benediktinern des nahe gelegen Klosters Monte Cassino. Rund zehn Jahre später verlässt Thomas diesen Ort, um an der neu gegründeten Uni­ver­sität Neapel zu studieren. Bald darauf tritt er dem noch jungen Bettelorden der Dominikaner bei – in Abbildungen wird er daher meist im schwarzen Umhang dieses Ordens gezeigt. Es folgen lange Studienaufenthalte, erst in Paris, dann Köln und nochmals Paris, nun mit eigenen Lehrveran­stal­tun­gen. Das Studium, die Auseinandersetzung vor allem mit Aristoteles und dessen Kommentatoren empfindet er als «geistli­chen Trost».20

      Von Mitte 1272 bis Ende 1273 unterrichtet Thomas als ­Magister in Neapel, seinem letzten Lebens- und Wirkungsort. Er stirbt, erst 50-jährig, im Jahr 1274. Zeitgenossen spekulieren über einen politischen Giftmord. Seine «Summa theologica» bleibt unvollendet. In den kommenden beiden Jahrhunderten wird Thomas zu einer dominierenden Autorität, an der sich die katholische Kirche orientiert. Um daran keinen Zweifel aufkommen zu lassen, ernennt ihn Papst Pius V. in der Mitte des 16. Jahrhunderts zum Kirchenlehrer. Ende des 19. Jahrhunderts werden seine Lehren dann zur offiziellen Philosophie der katholischen Kirche erklärt.

      Thomas war fromm, doch gleichzeitig ein analytischer Denker, der sich gegen die antiintellektuelle Haltung der Klöster stemmt. Religiöser Glaube und die logisch argumentierende Vernunft sind für ihn keine Konkurrenten, sondern zwei Wege, die widerspruchsfrei zu der einen Wahrheit führen. Doch dafür muss die Vernunft den richtigen Weg einschla­gen. Und so stellt er in der «Summa» Frage um Frage, gibt darauf Antwort um Antwort, liefert Pro und Contra, zeigt, dass das Contra auf Fehlschlüssen der Vernunft beruht, auf unvollständigem, nachlässigem Denken, und stärkt, nein, zementiert so das Pro, auch bei der Frage: Darf jemand sich selber, aus eigener Autorität töten? Die Antwort ist ein dreifaches Nein.

      Nein, weil die Selbsttötung dem Lebenszweck widerspricht. Denn ein jedes Wesen liebt von Natur aus sich selbst. Wer sich selbst tötet, verstößt gegen diese naturgegebene, heilige Selbstliebe.

      Nein, weil jedes Wesen Teil eines Ganzen ist. Selbsttötung schadet der gesellschaftlichen Ordnung und tut ihr gegenüber somit ein Unrecht.

      Nein, weil das Leben ein Geschenk Gottes und seiner Macht unterworfen ist. Denn «Gott allein gehört das Urteil über Leben und Tod». Wer Gott dieses Urteil streitig macht, belei­digt ihn und begeht eine Sünde. Thomas greift hier eine Stelle aus dem 5. Buch Mose auf, wo es heißt: «Seht nun, dass ich es bin und dass es keinen Gott gibt neben mir. Ich töte, und ich mache lebendig; ich habe zerschlagen, ich werde auch heilen, und niemand kann aus meiner Hand erretten.»21

      Dieses dritte Argument ist das bis heute schwerwiegendste und einflussreichste. Denn da die Selbsttötung eine Sünde gegen Gott ist, sind die damit verbundenen Höllenstrafen die schwersten. Thomas schreibt: «Die gegen Gott sündigen, werden nicht nur gestraft, weil sie von der ewigen Glückseligkeit ausgeschlossen werden, sondern auch durch die Erfahrung von etwas Schmerzlichem.»22 Er übernimmt somit die Drohung aus dem Neuen Testament: «Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist für den Teufel und seine Engel!»23

      Das Verbot, sich selbst zu töten, ist nur dann aufgehoben, wenn Gott den geheimen Befehl dazu gibt. Was offenbar nur selten passiert. Bei der Tötung eines anderen Menschen gibt Thomas mehr Spielraum. Gefragt, ob jemand töten darf, wenn er sich selbst verteidigen muss, antwortet er mit Ja. Denn hier sei die Absicht – die Rettung des eigenen Lebens – entschei­dend und nicht, dass als Folge davon der Angreifer sein Leben verliere. Denn jeder Mensch sei, so Thomas, verpflichtet, für sein eigenes Leben mehr zu sorgen als für das eines anderen. Wird er also angegriffen, dann darf er auf Gewalt mit Gewalt reagieren, selbst wenn er den anderen dabei tötet. Entschei­dend ist, dass er den Tod des anderen nicht beabsichtigt, sondern nur in Kauf nimmt.

      Das klingt spitzfindig, spielt jedoch unter der Bezeichnung «Doppelwirkung» – eine Absicht, zwei Wirkungen – bei der Rechtfertigung moralischer Entscheidungen um Leben und Tod noch immer eine wichtige Rolle: Der Mediziner darf eine Sedierung mit der Absicht verabreichen, Schmerzen zu lindern. Wenn diese außerdem den Tod beschleunigt, dann wird dies moralisch nicht beanstandet, denn auch wenn diese zusätzliche Wirkung vorhersehbar ist, so liegt sie nicht in der Absicht. In der Schweizer Rechtsprechung wird es so ausge­drückt, dass der Tod nicht vorsätzlich herbeigeführt wird.

      Die Lebensfremdheit der Kirche

      Herr Kriesi, zwar war und ist die Wirkung der Tradition, die sich auf Augustinus und Thomas von Aquin beruft, noch immer mächtig, doch kaum ein Pfarrer in der Schweiz wird noch mit dem «ewigen Feuer» argumentieren.

      Kaum ein Pfarrer innerhalb der Schweizer evangelischen Lan­deskirchen, ja. Aber innerhalb der evangelikalen Religionsge­meinschaften, da wirkt diese Tradition durchaus noch mit Macht. Wie oft passierte es mir während meiner Vorträge zur Freitodhilfe, dass da einer aufstand, die Bibel hochhielt und ins Publikum rief: «In meiner Bibel steht geschrieben: Meine Zeit steht in Gottes Händen!» Und selbst wenn vom «ewigen Feuer» in den Predigten der Landeskirche nicht länger die Rede ist: Unterschätzen Sie nicht, wie tief sich die kirchliche Verdammung des Suizids im Volksglauben eingenistet hat. Das haben wir ja etwa an Andelka gesehen. Tagtäglich habe ich es während meiner Arbeit als Pfarrer und später dann auch als Freitodbegleiter erlebt, wie sehr die Menschen weiterhin von diesen Vorstellungen umgetrieben werden. Egal welche Herkunft, egal welche Schulbildung. Egal ob Akademiker oder Handwerker. Viele leiden, weil in späteren Jahren der oft verschüttete Kindheitsglaube wieder hochkommt und damit die panische Angst, dass Gott sie verdamme. Erst gestern telefo­nierte ich mit einem Freund, fast so alt wie ich, er war bis zu seiner Emeritierung Professor für Psychiatrie. Er erzählte mir, wie tief beunruhigt und verängstigt er sei, wenn er an das Jüngste Gericht denke.

      Mord und Genozid, Blutrache und Krieg, Todesstrafe und Menschenopfer. Gewaltsam gestorben wird in der Bibel reichlich. Mit wenigen Ausnahmen sind es keine Selbsttötungen. Das Alte Testament berichtet von König Saul, der sich ins Schwert stürzt, von Samson, der einen Tempel über sich zusammenbrechen lässt, oder von Abimelech, der einem seiner Soldaten befiehlt, ihn zu töten. Verurteilt wird dies nicht, auch nirgends verboten. Alle Selbsttötungen sind die Folge von Ehrverletzung oder Demütigung. Und nicht einer unheilbaren Krankheit oder eines unerträglichen körperlicher Leidens.

      Diese spielten damals auch lange keine so große Rolle wie inzwischen in unseren Gesellschaften. In der Bibel waren in dieser Hinsicht die Verhältnisse kaum anders als noch bei uns vor zwei Generationen. Das durchschnittliche Alter, das man über Jahrtausende erreichte, betrug ungefähr 45 Lebensjahre. Seit dem letzten Jahrhundert steigt die Lebenserwartung. Noch Anfang der 1930er-Jahre erlebten 96 von 100 Menschen den siebzigsten Geburtstag nicht. Inzwischen werden wir durchschnittlich über achtzig Jahre alt. Dank dem Wohlstand, den geordneten politischen Verhältnissen und der hochentwickelten Medizin wird uns somit etwas geschenkt, was sich frühere Generationen nur erträumen konnten. Die paradoxe Kehrseite ist, dass dieses lange Leben zu ethisch-moralischen Problemen führt, von denen unsere Vorfahren keine Ahnung haben konnten. Die unerträgliche Situation, in die viele todkranke Menschen geraten sind, ist ja erst entstanden, weil die Medizin das Sterben immer weiter hinauszögern kann. Daher ist es so lebensfremd, so patholo­gisch auch, wenn die Kirche noch heute das Dogma von Thomas von Aquin vertritt, das er vor bald tausend Jahren, im Hochmittelalter, entwickelt hat. Die Lebenswelt damals hat doch nichts mit der heutigen Zeit zu tun! Wie kann man sich da noch auf den allmächtigen Gott, den Herrn berufen, der in seinem «unerforschlichen Willen» die Todesstunde eines Menschen bestimmt, um ihn zu sich in die «ewige Heimat» zu rufen?

      Sie meinen, da wir den Tod mit unseren wissenschaftlichen Errungenschaften immer weiter hinauszögern können, haben wir auch die Verantwortung für den Verlauf unseres Lebens bis zum Ende mehr und mehr in die eigenen Hände genom­men – die Kirche jedoch weigert sich weiterhin, uns auch für den Zeitpunkt des Todes ein Mitspracherecht zuzugestehen?

      Wie oft höre ich von kirchlichen Kritikern: «Gott selbst hat uns das Leben geschenkt. Gott allein ist der Herr über Leben und Tod, und deswegen hat der Mensch kein Recht, selber über sein Ende zu entscheiden.» Diese theologisch-dogmatische Formel dient den Kirchen in allen Fragen der Sterbehilfe als Fun­dament