Название | Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer |
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Автор произведения | Suzann-Viola Renninger |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552383 |
Auch die Zeilen eines Gebets gehen mir nicht mehr aus dem Sinn. Meist wird es dem amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr zugeschrieben, sein Ursprung geht aber wohl weit zurück ins Mittelalter:
«Gott, gib mir die Gelassenheit,Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.»
Sie meinen, auch wenn wir nicht ändern können, was mit uns geschieht, so können wir doch ändern, wie wir damit umgehen?
Ja, denn wenn ich gelähmt oder krebskrank bin, dann kann ich das nicht ändern. Das ist mein Schicksal. Doch ich habe die Freiheit zu entscheiden, wie ich damit umgehe, also ob ich mein Leben mit der Behinderung oder der Krankheit bis zum Schluss leben will – oder ob ich es durch ein selbstbestimmtes Sterben abkürze.
Das erinnert mich an die Stoa, an das, was Seneca oder auch Epiktet vor bald zweitausend Jahren lehrten. Lassen Sie uns später darauf zurückkommen. Nun erst mal Augustinus.
Augustinus: Wer sich selbst tötet, ist ein Mörder
«Gebt acht, dass es niemandem gelingt, euch einzufangen durch Philosophie, durch leeren Betrug, der sich auf menschliche Überlieferung beruft, auf die kosmischen Elemente und nicht auf Christus.» So heißt es im «Brief an die Kolosser», der von der Tradition dem Apostel Paulus zugeschrieben wird.6 Es ist eine Warnung, die Augustinus in seine Lehren übernimmt.
Zwar versteht sich auch Augustinus als Philosoph, als jemand also, der nach Weisheit strebt. Doch er ist Christ, und daher sieht er sich vom Verdikt des Apostels ausgenommen, das nur für Heidenphilosophen gilt. Von 396 bis zu seinem Lebensende 430 amtet Augustinus als Bischof von Hippo, einer Hafenstadt im Osten Algeriens. Sein Einfluss auf das noch junge Christentum ist immens. Bis heute prägen seine Lehren und Überzeugungen die westlichen Kirchen, die ihn mit dem Ehrentitel eines Kirchenvaters versehen haben.
Woher die Skepsis gegenüber den nichtchristlichen Philosophen? Weil, so Augustinus, nicht Gott der Gegenstand ihrer Untersuchung sei, sondern die «Elemente dieser Welt»7, die kosmischen Elemente also, wie es im Apostelbrief heißt. Augustinus zählt zu den nichtchristlichen Philosophen vor allen anderen die Epikureer und Stoiker, lehren diese beiden philosophischen Richtungen doch, dass das Glück nicht im Jenseits zu suchen und zu finden sei. Sondern jetzt und im Diesseits, während unserer Lebenszeit, hier auf Erden. Wir seien auf der Welt, um uns unseres Daseins zu erfreuen, wir würden leben, um zu genießen – und nicht, um die Liebe Gottes zu erwerben oder um auf die Erlösung zu hoffen.
Augustinus’ Pontifikat ist für die Christen eine unruhige Zeit. Zwar war das Christentum seit 380 Staatsreligion im Römischen Reich, doch 410 wird Rom durch die heidnischen Westgoten erobert und geplündert. Zahlreiche christliche Frauen werden vergewaltigt, und Augustinus muss die an ihn gerichtete dringliche Anfrage beantworten, ob es richtig sei, wenn sich die «geschändeten christlichen Jungfrauen» aus Scham und Verzweiflung selbst töten.
Seine Antwort ist kurz und bündig: Qui se ipsum occidit, homicida est. Auch wer sich selbst tötet, der ist ein Mörder.8 Dies erklärt Augustinus gleich zu Beginn seines Werkes «Vom Gottesstaat». Das Verbot gilt nicht nur für geschändete Jungfrauen, sondern für jeden, der glaubt, sich mit noch so guten Gründen das Leben nehmen zu müssen. Nirgends in der Heiligen Schrift, so Augustinus, gäbe es eine Stelle, die erlauben würde, sich selbst das Leben zu nehmen, um irgendein Übel zu vermeiden oder zu beseitigen. Die einzige Ausnahme sei Gottes Befehl. Hinzu kommt: Der Selbstmörder lade umso größere Schuld auf sich, je weniger er schuld sei an der Ursache, die ihn zum Selbstmord treibe. «Du sollst nicht töten», das fünfte Gebot, liest Augustinus somit als: «Du sollst nicht töten, weder einen anderen noch dich selbst».9 Wer es dennoch tut, sei verdammt, sei endgültig verloren und komme ins ewige Feuer, das den Leib peinige.10 So folgt eine Pein auf die andere; eine Erlösung gibt es nicht.
«Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie.» In den Jahrhunderten vor Augustinus hatten die Heidenphilosophen der Stoa und des Epikureismus weder den Tod durch eigene Hand noch die Hilfe dazu verdammt. Im Gegenteil, sie unterstützen ihn als einen Ausweg, eine offene Tür, wenn etwa ein Kranker so leidet, dass er es nicht mehr auszuhalten vermag. Augustinus setzt all die Wortgewalt seiner Rhetorik und Ausdruckskraft ein, um diese Philosophen zu diffamieren. Wunderlich dreist seien sie, verlogen, verblödet, hochmütig und stumpfsinnig, da sie glaubten, das höchste Gut, die Glückseligkeit, sei im diesseitigen, sei im endlichen Leben hier unten auf der Erde zu finden. Doch der Herr, so Augustinus, kenne ihre Gedanken «und weiß, dass sie nichtig sind».11
Augustinus schildert das Elend irdischen Daseins. All das, was wir als gut empfinden, fällt der Zerstörung anheim. Alle körperlichen Güter werden zu Übeln. Die Gesundheit etwa? Labil. Schönheit und Anmut? Vernichtet. Die Kraft? Ermattet. Der Körper? Versteift. Die Glieder? Gelähmt, verstümmelt, zitternd. Das Rückgrat? Gekrümmt. Der Mensch? Ein Vierfüßler jetzt, kriechend im Elend. Des Geistes «angeborene Güter»? Blind sind jetzt die Augen, taub die Ohren, verrückt der Verstand, ergriffen von Dämonen. Und was tun die Heidenphilosophen? Sie entwickeln, so Augustinus entrüstet, Tugenden und lehren Mäßigung, Klugheit, Gerechtigkeit und Mut, um mit all diesen Gebrechen umzugehen. Doch nicht nur das, sie empfehlen sogar den «Selbstmord»:
«Mit wunderlicher Dreistigkeit sprechen die stoischen Philosophen diesen Übeln die Eigenschaft von Übeln ab, da sie doch im selben Atemzug behaupten, der Weise werde, wenn sie so überhandnähmen, dass er sie nicht ertragen könne oder dürfe, zum Selbstmord und zum Scheiden aus diesem Leben genötigt.»
Die entscheidende Frage ist: Warum soll es nicht dennoch möglich sein, im Rahmen der Conditio humana, der nun mal unabweisbaren Umstände des Menschseins, unserer Fragilität und Sterblichkeit, glücklich und zufrieden zu sein? Und mit Hilfe der vier antiken Tugenden – Gerechtigkeit, Klugheit, Mäßigung und Tapferkeit –, auch die Entscheidung zu fällen, dass der Weg des Freitods der für uns richtige sein kann? Augustinus spottet: «Ei, welch glückliches Leben, das den Tod zu Hilfe ruft, um ein Ende zu finden! Ist es glücklich, so sollte man es doch festhalten!»
Und was rät er selbst? Augustinus ruft zur Geduld auf, zur Hoffnung aufs Himmelreich, aufs Jenseits, «denn wir stecken in Übeln, und die müssen wir geduldig ertragen, bis wir zu jenen Gütern gelangen, wo alles von der Art sein wird, dass wir uns daran unsagbar erfreuen, und nichts von der Art, dass wir es noch ertragen müssten. Solch ein Heil, wie es in der künftigen Welt eintreten wird, wird zugleich die vollendete Glückseligkeit sein.»
Die Kirche wird Augustinus folgen. Die Verdammung der Selbsttötung wird zur offiziellen Position und prägt die gesellschaftliche Meinung bis heute. Die Gleichstellung von Mord und Selbstmord zeigt sich auch in der Art der Bestrafung. Bis ins 16. Jahrhundert wird etwa in der Schweiz die Leiche des Selbstmörders aufgehängt, gerädert, enthauptet – hingerichtet also, als sei sie ein lebendiger Verbrecher. Danach wird sie vom Scharfrichter, nicht von einem Geistlichen, außerhalb des Friedhofs verscharrt oder in einem Fass in den Fluss geworfen.
Im 19. Jahrhundert setzt sich mit der aufkommenden modernen Psychiatrie die Idee durch, Selbstmord sei eine geistige Krankheit. Die juristischen Sanktionen werden durch wissenschaftliche Erklärungsansätze abgelöst. Doch noch im frühen 20. Jahrhundert wird Menschen, die sich selbst das Leben genommen haben, eine gleichwertige Bestattung auf Friedhöfen verweigert. Ihre Gräber werden mit einem niedrigen Eisengitter umzäunt, das den Selbstmörder daran hindern soll, als Wiedergänger seine Grabstelle zu verlassen.12
Werner Kriesi erzählt
Judith. Die Operationen helfen nicht
Als ich Judith kennenlerne, ist sie 39 Jahre alt, im selben Alter wie mein jüngster Sohn.
Aus ihrem Zimmer blicken wir auf die umliegenden Wiesen und Obstgärten, die sich frühlingsprächtig vor unseren