Название | Anaconda 0.2 |
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Автор произведения | Urs Richle |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038550730 |
Das Zimmer war geblieben, wie Leo es ein paar Tage vor der Demo zum letzten Mal verlassen hatte: das gewohnte Durcheinander, Kleider am Boden, zerschlissene Schuhe, Bücher, zerkratzte Vinyl-Platten. Das aufgebaute Elektropiano eingeschaltet und staubbedeckt, der Schreibtisch von Papieren überladen, das Bett zerwühlt, sein Pyjama noch auf dem Kissen, als würde er gleich nach Hause kommen, als wäre er nur kurz raus zu seinen Freunden, als hörten wir bereits das Klacken der Wohnungstür gefolgt von seiner Stimme, die nach dem Abendessen fragt.
Mona ging voraus und näherte sich langsam dem Bett, beinah, als mache sie etwas Unerlaubtes, setzte sich drauf, ließ ihre Hände über die Matratze gleiten, über das Kissen und über die Decke. Dann nahm sie den Pyjama mit beiden Händen, hob ihn hoch und presste ihn gegen ihr Gesicht. Sie versank in diesem weichen, warmen Stoff, atmete in der Stille seinen Geruch. Und dann plötzlich wurde sie von einem Heulkrampf erfasst, warf sich mit dem Pyjama in den Armen auf das Bett und weinte.
Ich wohnte dieser Geste bei wie einem alten Ritual.
Und dann glitt ich der Wand entlang, am Bürotisch vorbei, um mich in der Mitte des Zimmers auf den Boden zu setzen, zwischen die Schulbücher und die Fahrradutensilien des kleinen Jungen, der er in diesem, seinem Zimmer geblieben war. Bremsklötze, Schrauben, Kugellager und Kettenteile lagen auf dem Boden verstreut. Eines nach dem andern nahm ich in die Hand, fasste nach undefinierbaren Eisenteilen im Regal, diesem kleinen Ersatzteillager, das Leo sich die letzten Jahre hier für seine Rennräder im Keller aufgebaut und bei seinem überstürzten Auszug aus unserem Haus vor mehr als einem Jahr hatte liegen lassen. Wir hatten damals nicht daran geglaubt, dass er bereits auf eigenen Füßen stehen könnte, und ließen sein Zimmer unangetastet, bereit, ihn für die Restzeit seiner Abnabelung wieder aufzunehmen. Außer ein paar Kleidungsstücken hatte er kaum etwas mitgenommen. Als habe er sich auf eine kleine Reise aufgemacht, war er damals, zwei Monate vor seiner Mündigkeit, rot vor Wut und Hass auf Mona und mich mit einem kleinen Sportsack an uns vorbei zur Tür hinaus ins Leben getreten und bis zu seinem Tod nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Hin und wieder suchte er noch Unterschlupf bei uns, wenn er gerade keine Bleibe hatte, auf der Suche nach der nächsten Absteige, der nächsten Etappe seines Zauberlehrlingstrips, tauchte dann unter in dem kleinen Museum seiner Kindheit, wie er sein Zimmer fortan nannte, genoss die letzten Geborgenheitsfetzchen, bettete sich in die welken Federn seiner Pubertät. Aber länger als eine oder zwei Nächte hielt er es nicht mehr aus bei uns, und oft wussten wir nicht, wohin er sich als Nächstes verkroch, mit wem er die Nächte durchsoff, Abende verkiffte und Tage vergeudete.
— Unser kleiner Leo, sagte Mona, unser lieber kleiner Leo! Wir hätten ihn nicht gehen lassen dürfen.
— Ihn etwa einsperren? Anbinden? Meinst du, wir hätten ihn zwingen können, zu Hause zu bleiben?
— Wir hätten niemals akzeptieren dürfen, dass er einfach so geht und sich wie ein Straßenkind durchschlägt. Er war noch ein Kind!
— Ja, ein Kind, ein selbsternanntes Findelkind.
Leos Stolz hatte es ihm verboten, uns auch nur einmal um Geld zu bitten. Zu seinem achtzehnten Geburtstag hatte er von der Bank eine Karte für sein Konto zugeschickt bekommen, die ihm Zugang zu seinem seit seiner Geburt von Großeltern, Tanten, Paten und auch von uns gespiesenen Guthaben erteilte. Es war nicht besonders viel, aber damit konnte er sich einige Monate über Wasser halten. Später erfuhren wir, dass er sich in einem besetzten Industriegebäude am Stadtrand neue Freunde gemacht hatte. Dort wohnte er mit vier Hunden, zwei älteren Punkfrauen und einem Straßenclown in einer Lagerhalle, und nach mehreren Wochen Absenz hatte er die Schule wiederaufgenommen. Wir hatten uns gestritten deswegen, hatten um Marihuana und um Alkohol gefeilscht, um Ausgehzeiten und um Taschengeld. Leo bombardierte uns mit Argumenten und Gegenargumenten, hielt Tiraden über die Konsumgesellschaft der Mittelschicht, fabulierte sich in die Höhen der Verantwortlichkeiten und Anschuldigungen, verweigerte jegliches Versöhnungsangebot und führte Krieg gegen uns, gegen die Gesellschaft, gegen die Welt, eine Welt, in der er nicht leben wollte. Als er dann begann, Lehrer für ihre vermeintliche Inkompetenz mit seiner Absenz zu strafen, eskalierte der Konflikt zu einem letzten rhetorischen Bombardement, das in Leos demonstrativem Auszug aus unserem Haus kulminierte.
Seither mussten wir uns mit Leos sporadischen kurzen Besuchen bei uns begnügen, erhielten tropfenweise Informationen über ihn, erfuhren, dass er die Matura doch noch geschafft hatte, knapp zwar, aber immerhin, und schließlich ließ er uns schriftlich mitteilen, dass er sich an der Uni eingeschrieben habe. Viel konnten wir nicht erfahren. Der Krieg war vorüber, aber der Friedensprozess hatte noch nicht eingesetzt. Leo blieb auf Distanz, und wir lebten fortan mit dem Zimmer in unserer Wohnung, dem kleinen Leo-Museum, das weder Mona noch ich noch seine Schwestern je betreten hatten.
Ich weiß nicht, wie lange wir in Leos Zimmer blieben. Irgendwann hatte sich die Dunkelheit über uns gelegt. Mona war auf dem Bett eingeschlafen. Auch ich schlief ein wenig, vielleicht sogar mehrere Stunden, denn als ich aufwachte und das Zimmer verließ, war Nadine nach Hause gekommen und in ihr Bett verschwunden. Ich löschte alle Lichter und legte mich zu Mona.
4
Als ich aufwachte, war ich allein. Mona hatte bereits alle Bücher in eine Kiste gelegt, der Schrank stand weit offen, zwei große Koffer davor.
— Ich bringe sie zur Caritas, sagte sie und verschloss den ersten, prallvollen Koffer. Viele T-Shirts, Hosen und Pullover sind noch wie neu. So nützen sie wenigsten jemandem was.
Dann stopfte sie den Rest in den zweiten Koffer.
— Was machen wir mit dem Bett?
— Das können wir für Besucher behalten.
— Und sein Arbeitstisch?
— Schraub den auseinander! Ich will diesen Mist nicht mehr sehen. Ab heute keine nordischen Wegwerfmöbel mehr in unserem Haus!
Diese Entscheidung hatten wir vor ein paar Monaten gemeinsam getroffen, aber es tat gut, sie noch einmal deutlich zu wiederholen. Die Vorstellung, dass die Erinnerungen an unseren Sohn sich in alten Einwegmöbeln verewigen sollten, war unerträglich.
So schlug ich die Werkzeugkiste auf und begann, den Tisch abzuräumen. Papiere, Werk- und Schreibzeug lagen obenauf, cds und Kabel, ein vertrockneter, angebissener Apfel. Ich sah Leos Zahnabdrücke im Fruchtfleisch, roch daran, biss hinein. Dann zog ich die oberste Schublade auf und holte auch dort die Papiere, Hefte und alten Feriensouvenirs heraus. Seit Jahren hatte ich diese Schublade nicht geöffnet. Wir wussten alle, dass Leo hier seine Hefte, in die er hin und wieder Gedichte geschrieben hatte, versteckte, kleine Cannabis-Reste, Liebesbriefe oder Geld, das er zur Seite legte. Ich wusste sehr genau, dass Mona diese Schublade umging, dass sie sich nicht darum kümmern wollte. Mit einem unguten Gefühl stellte ich mir vor, hier auf ein Tagebuch zu stoßen, die schmerzhafte Lektüre der vergangenen Welt, der ich mich stellen müsste. Vielleicht hätte ich es ungelesen in sein Grab gelegt oder verbrannt wie so vieles später, kurz vor Weihnachten, an einem Gedenkabend an Leo. Das schien uns die einzige angemessene Weise, um im Familienkreis von ihm Abschied zu nehmen.
Da gab es Briefe und beschriebene Zettel, von ihm gesammelte Zeitungsartikel, Zigarettenstummel, Korken von einigen guten Flaschen, die er aus meinem Keller geklaut hatte. Ich fand zwei Uhren, die ich ihm gegeben hatte, deren eine das Erbe meines eigenen Vaters war. Dann auch alle Klappmesser, mit denen wir bei Picknicks Pfeile und Bogen geschnitten hatten. Ich fand Muscheln, Steine und Kristalle, die wir aus Ferienorten nach Hause getragen hatten. Und wie erwartet fand ich auch die beiden blauen Notizhefte mit den poetischen Versuchen.
Mona hatte eine Kiste für die brennbaren Dinge und eine zweite Abfalltüte gebracht. Sie hatte damit begonnen, die Bücher in jene zu sortieren, die sie behalten, und jene, die sie zum Trödler