Название | Anaconda 0.2 |
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Автор произведения | Urs Richle |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038550730 |
Die Krankenschwester stellte das Herzsignal leiser, zuerst auf null, aber Mona wollte es hören, und ich auch. Dieses kleine Geräusch beruhigte uns, das einzige Zeichen unseres Sohnes, der im Schlund von Panik und Angst verschwunden war, wir wollten es hören wie damals, als es sich auf dem Monitor des Ultraschallgerätes zum ersten Mal angekündigt hatte, unfassbar wie jetzt.
Es war um vier Uhr sechsunddreißig, ich konnte es beim Erwachen auf dem kleinen Radiowecker auf dem Nachttisch sehen, als Leos Herzschlag den Rhythmus wechselte. Mona saß auf einem Stuhl neben dem Bett.
— Wie kannst du schlafen!
— Was ist los?
Die Krankenschwester kam in zu schnellen Schritten und zu nervös ins Zimmer, als dass uns das hätte beruhigen können. Ohne ein Wort ging sie an die Maschine, tippte auf Knöpfe, druckte Resultate auf einem kassenzettelgroßen, fast durchsichtigen Papier aus, rief den Arzt um Hilfe und bat uns, vom Bett Abstand zu nehmen.
— Bleiben Sie da, bitte, man wird Sie abholen!, schnippte sie und schob das Bett mitsamt den Kissen und Schläuchen und Geräten an uns vorbei zur Tür hinaus.
— Was ist los, David? Was machen sie mit ihm?
Und schon war der Materialberg, den wir nun ganz für unseren Sohn nahmen, in den Gängen des chirurgischen Labyrinths verschwunden. Zwischen unseren beiden Klappbetten hingen Kabel da und dort herunter wie abgerissene, ausgetrocknete Nabelschnüre.
— Wo haben Sie ihn hingebracht? Was passiert mit ihm?, schrie Mona, als die Nachtschwester zurückkam, um die unnütz gewordenen Apparaturen aufzuräumen.
— Beruhigen Sie sich, Frau Conda, die Ärzte machen ihr Bestes, Ihr Sohn ist in guten Händen.
— Aber was ist mit ihm?
— Ihr Sohn hat einen Rückfall. Die Hirnblutung konnte gestoppt werden, aber sein allgemeiner Zustand hat sich verschlechtert. Sie haben wahrscheinlich auch gehört, wie sein Herzrhythmus plötzlich unregelmäßig wurde. Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Frau Conda, aber glauben Sie mir, Herr Polane ist ein sehr guter Arzt. Er weiß, was er zu tun hat, und er macht seine Sache sehr gut.
Sie bat uns, das Zimmer zu verlassen, ihr durch die verlassenen Gänge zu folgen, über Treppen und Lifte und weitere Flure. Sie brachte uns in ein Büro in einem anderen Gebäude, bat uns, dort wiederum zu warten, Geduld zu haben, bot uns Kaffee und Tee an, trockene Brötchen des Vortages, aber weder ich noch Mona konnte etwas anderes schlucken als Wasser, als wäre jegliche Nahrungsaufnahme ein Verrat an der Zeit, die wir hatten stillstehen lassen, als hätten wir kein Recht darauf, weiterzuleben, bevor Leo nicht wieder aus diesem Schlund der Unterwelt entkommen und nach Hause zurückgekehrt war.
Dann ließ sie uns allein in diesem von Ordnern und administrativem Kram überfüllten Raum, Formulare auf den Tischen, Ferienpostkarten an den Wänden. Die Geräusche der Schritte auf dem Linoleum draußen im Gang ließen uns regelmäßig aufschrecken. Aber niemals kamen sie bis zu uns in das Büro, niemals brachten sie Erklärungen und Lösungen. Die Ärzte hatten uns aufgegeben, die Krankenschwestern vergessen. Polane war vom Erdboden verschwunden.
Gegen halb sechs rief Nadine an, um nach Leo zu fragen.
— Ihr seid nicht mal nach Hause gekommen! Sie war um fünf aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen, wollte ins Krankenhaus kommen. Du musst Selma zur Schule bringen, und du selbst hast heute auch Kurs. Mach, was du zu machen hast!
Aber eine Stunde später, als bereits alles vorüber war, kamen die beiden trotzdem ins Krankenhaus, angetrieben vom schwesterlichen Instinkt, mit Recht befürchtend, dass man ihnen die letzte Stunde mit ihrem Bruder stehlen könnte. Sie wollten ihn sehen, wollten sein Gesicht berühren, seine Hände, seinen entspannten Mund, seine bleichen, grauen Lippen. Selma blieb wie versteinert neben dem Bett stehen. Ihr Gesicht war fahl und leer geworden. Nadine nahm Leos Hand, wie wir es vor ihr getan hatten, nachdem Herr Polane endlich gekommen war, um uns mitzuteilen, was wir bereits wussten, aber nicht wahrhaben wollten:
— Frau Conda, Herr Conda, es tut mir sehr leid, wir haben unser Möglichstes getan.
3
Die folgenden Tage verbrachten wir unter türkisblauem Herbsthimmel. Die Kastanienbäume verfärbten sich gelb, die Pappeln vor dem Wohnzimmerfenster leuchteten orange und rot, und die kleine Topfrebe, die den Sommer über das Geländer des Balkons überwuchert hatte, verlor bereits die Blätter.
Die ersten drei Tage waren wir alle vier zu Hause geblieben, schweigsam in der Stille, jeder mit seinen Gedanken und seiner Traurigkeit. Nicht nur die kleine Selma, auch Nadine mit ihren fünfzehn Jahren und bereits größer als Mona, kroch zu uns ins Bett zum Schlafen, zwischen uns beide, zwischen Mama und Papa, klammerte sich an meinen Arm, schmiegte sich an Monas Rücken.
Erst nach Leos Beerdigung spülte der Regen das Gesicht der Stadt und unsere Gefühle auf. Wir ließen die Traurigkeit in die feuchte Atmosphäre entweichen, sich unter die Wolken mischen. Ich nahm die Arbeit wieder auf und war froh, dass niemand kam, um mit mir zu reden. Die administrative Prozedur der Beerdigung hatte mich erschöpft, die Todesanzeige und die Formulare, die Beileidskarten und Anrufe, die Wünsche und Ratschläge der Freunde, die freundliche Anteilnahme von so vielen Leuten, die weder ich noch Mona aufnehmen konnten. Und dann: wie ein Kind beerdigen, das wir atheistisch nicht getauft hatten? In welchem Rahmen, mit Rede von wem und mit welchem Ritual? Fragen, die wir uns nicht gestellt hatten, Dinge, die nicht Teil unserer Welt gewesen waren, nicht einmal unserer Vorstellung. Die Beerdigung des eigenen Kindes, auch nachdem es passiert ist, bleibt eine Aberration, die Welt auf den Kopf gestellt.
Mona war es, die in ihrer Trauer und ihrer Wut das Nötige unternahm und Anzeige gegen Unbekannt erstattete.
— Was soll das denn?
— Man muss den Mörder finden und vor Gericht bringen!
— Das ändert nichts, das bringt uns Leo auch nicht zurück.
— Ich will ihn sehen, will seinen Namen kennen, ich muss ein verdammtes Gesicht auf diese Katastrophe setzen!
— Auch wenn du einen Schuldigen findest, das ist nicht der Mörder. Im Gegenteil, er wird sich so schlecht fühlen wie wir, vielleicht noch schlechter, stell dir vor: Ein junger Spund, der unter dem Befehl einer übergeordneten Institution einen Menschen tötet. Was gibt es Schlimmeres? Er muss von Reue und Schuldgefühlen zerfressen sein.
— Schuldgefühle? Das sind Mörder und fühlen sich auch noch im Recht. Die muss man zur Rechenschaft ziehen!
— Mir ist es lieber, man lässt mich in Ruhe.
— Dann bleib doch in deiner Ecke, friss alles in dich hinein, und du wirst sehen, wie die verdrängte Wut dich von innen her auffrisst.
— Du kannst dieses ganze System nicht ändern.
— Solche Dinge dürfen nicht passieren! Man muss das Wort ergreifen, die Dinge beim Namen nennen, Recht beanspruchen. Das ist das Mindeste, was wir Leo schuldig sind.
— Missbrauche unseren Sohn nicht für deine eigene Wut! Lass ihn in Ruhe, lass ihn aus dem Spiel!
— Er ist das Zentrum der ganzen Angelegenheit. Wach auf, David! Wach endlich auf!
Unsere Diskussionen waren uferlos und endeten oft in Streit. Seit der Beerdigung hatte Mona eine zunehmende Wut entwickelt. Ihr Schmerz verwandelte sich in Anschuldigungen und Verurteilungen gegen das Verbrechen der Polizei an unserem Sohn. Zum tausendsten Mal wiederholte sie den angeblichen Ablauf der Ereignisse, bis ihre Beschreibung ein ritualisiert erzähltes Märchen wurde, eine Version, die alle Hypothesen und Anschuldigungen beinhaltete, eine Erzählung, die ihrer Wut entsprach. Mir war die Version egal, ich wollte sie nicht mehr hören. Leo war tot, so viel zu den Tatsachen, mit denen wir fortan leben mussten.