Название | Die Adelaiden |
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Автор произведения | Anna Felder |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038551331 |
3.
«Liebe ist ein Wort», hörten wir ihn in seinen Sprachen einwenden, er sprach für alle, für die Enkel, für die Gassenjungen, sprach mit halbgeschlossenen Augen, laut, damit wir ihn verstanden, aber er wusste nicht, hätte ich geschworen, ob es an jenem Tag Schwester Lea oder Schwester Betty war, die Adelaide beistand.
«Ein Wort, meine Gute, falls Sie weiterwissen», doch hielt er nicht inne, um zu hören, wie ich fortfuhr, «oui», sagte ich zu ihm, seine Worte nach Adelaides Gesten modulierend, da Adelaide mich vom Bett aus am Ärmel zupfte, ich sang meine Antwort für sie, für ihn, während Signor Ottone schon die immergleichen Gegenstände auf dem Tisch verschob und bald bei dem einen, bald dem anderen Gegenstand, allesamt von Wert, einen unvergesslichen Satz wiederholte, einen Satz wie aus einem Testament.
Bis er sich, ohne mich anzusehen, mit einem Leuchter in der Hand direkt an mich wandte, mich beim Namen rief, dem richtigen, und unvermittelt in der Sprache des Hauses fragte:
«Oder könnten Sie mir zufällig eine Definition liefern?»
Liebe war immer noch im Spiel.
Ich wusste es und hätte es ihm gern gesagt, wem sonst hätte ich es sagen sollen, Giancarlo jedenfalls nicht, obwohl es sich um ihn handelte, Giancarlo mon amour, wer weiß, ob er je zu Hause daran dachte, über solche Fragen wurde zwischen uns nicht gesprochen, Giancarlo mit dem nachdenklichen Nacken:
«Der Nacken», begann ich meine Antwort, «der arabeskengeschmückte Nacken, unterwegs entdeckt, noch vor Giancarlo selbst.»
«Unterwegs, wo?», unterbrach mich Ottone.
«Auf einer Gruppenreise in Griechenland», fuhr ich fort, «während wir alle, als wäre es griechische Kunst, die Gottesanbeterin mit ihrem ebenso grünen Schatten auf dem reglosen Weiß der Mauer beobachteten.»
«So hat der Nacken», fuhr Ottone fort, mir die Wörter raubend, «dieser gekerbte Nacken eines gesichtslosen jungen Mannes den Gnadenstoß angelockt, leugnen Sie es nicht.»
Er rieb sich die Augen, ohne darauf zu achten, wer ihm zuhörte, wem es, wenn überhaupt, gebührte, sich zu erinnern; lange rautenförmige Falten durchziehen bis heute Giancarlos Nacken, das Schicksal war ihm in den Hals geritzt, und ich gehörte schicksalhaft zu ihm.
«Manchmal», fuhr Ottone fort, «genügt tatsächlich ein Insekt, genügt der Schatten und vielleicht der Verdruss der anderen, um den coup de foudre auszulösen, wenn die jungen Leute das bloß wüssten.»
In alle vier Winde, in den Stadtlärm hinein erklärte er den Jungen, wo man die Liebe zu suchen habe: auch auf der Straße, auch kauend auf den Treppenstufen, das sollten sich die Landstreicher gut überlegen, und dabei betrachtete er die zahnlose Adelaide auf dem schmalen Bett, unbewegt, ein Anker für alle.
«Genügen Getreidegarben», sagte er, uns einen Anfang bietend, als sei es an ihm zu sprechen, «genügen Getreidegarben oder nicht, woher soll man das wissen?»
Er vermischte Erinnerungen, Orte, Stimmen, auch die Namen überlagerten sich, gewiss dachte er, ich sei es, die erzählte, während er von den großen Garben auf den Feldern in England sprach, davon, wie sie beide sich dort als junges Paar einen Augenblick setzten, um sich zu orientieren, und ein Kreuz aus Stoppeln fanden, gemähtes Gold, das sie einander schenkten. Eigensinnig hatte sie keine Ruhe gegeben, bis sie das englische Wort für Garbe erfuhr, «sag mir, wie sie heißen», drängte sie stur, «wo sind wir, Kindchen», «sag mir zuerst, wie sie heißen», «wo», «sag es mir», «zuerst du», «sag es mir».
«Sheaf», erinnerte ich mich, nun beiden, oder vielmehr allen dreien entgegenkommend, und streichelte Adelaides Arm; denn nicht Adelaide, nicht sie persönlich war je mit Ottone in England zwischen den sheaves gewesen, sondern statt ihrer eine Assunta, eine gewisse Assunta, die sich absentierte, die monatelang abwesend war, an den Seen, um sich zu erinnern, und von den Seen aus anrief.
«Sheaf, sehr gut, sheave.» Ottone erhob sich, um mir zu danken, und küsste uns beiden, den Anwesenden, die Hand, wir waren heute die Hüterinnen der englischen Getreidegarben, in Treue schob er uns über andere abwesende Hände, Assuntas Hände.
4.
Wer nach Sonnenuntergang außerhalb der festgesetzten Zeiten auf Zehenspitzen in den ersten Stock hinaufgegangen wäre, ohne aus Achtung vor der Stille und dem Halbdunkel in Ottones Haus das Licht anzuknipsen, hätte sich plötzlich von Abwesenheit überflutet gefühlt: abwesend er selbst, tausend Meilen entfernt vom Motorenlärm der Straße, den brennenden Scheinwerfern, den hastigen Schritten. Die private Stunde, um die die frei habenden Schwestern im Supermarkt den Abend organisieren oder unter der Dusche singen oder ihrem Giancarlo aus der Küche mit lauter Stimme Befehle erteilen.
Wer wie die Enkelin Giulia um diese Zeit die Lichter der Stadt ins Haus der Großeltern hätte bringen wollen und in die bewohnte Etage hinaufgestiegen wäre, in der Hand ein paar Trauben zum Sofortessen, hätte zuerst einige Schritte zurück machen müssen: dort in der Wohnung rückwärts gehen, auf dem Treppenabsatz stehenbleiben, um auf die Fußmatte neben den leeren Sandalen der Schwestern zu treten; und vor den offen gelassenen Türen gehorsam den Diebstahl der Nacht überwachen, in die Nacht eintauchen: um sich vorher wiederzufinden, die Stadt auszulöschen, sich wiederzufinden vor dem Licht, vor dem Lauf, dem Hunger, der Stimme.
Giulia hatte einige Schritte rückwärts getan, war über die leeren Sandalen gestolpert, stand nun auf dem Treppenabsatz und spürte als Erstes, wie die Locken auf ihrem Kopf erschlafften, spürte, wie sie sich an die Stille gewöhnten; sie merkte, wie die in ihren Händen noch lebendigen Trauben in der Tüte schwiegen, wie ihr Atem anhielt, flacher wurde, trocknete, bis er diesseits der vergessenen Stadt, diesseits der beleuchteten Geschäfte und blendenden Scheinwerfer den vertrauten Hauch der Wohnung wahrnahm: stagnierend, ausgestopft, aufgepfropft, in dem sich die Großeltern, solange es sie gab, seit jeher in aller Vertrautheit wiedererkennen mussten.
«Seid ihr da?», fragte Giulia auf dem Treppenabsatz.
Die Frage hätte unbeantwortet bleiben können.
«Natürlich sind wir da», ertönte Ottones Stimme aus der Dunkelheit; tief wie die eines Schlafenden, aber zur Antwort bereit wie die eines Wachpostens.
«Das hätte noch gefehlt, dass wir nicht da sind», sagte er tadelnd, indem er die rasch angeknipste Taschenlampe auf die Schuhe der Enkelin richtete, Marke Puma Cielo, «Gott sei Dank sind wir da und wohlauf, jedenfalls du und ich.»
«Beim Pferd bist du gewesen?», erkundigte er sich dann, sich an Julias Leidenschaft erinnernd, und erwies sich als Komplize des Pferdes, das im Stehen schläft.
Er dämpfte die Stimme, um Adelaides Ruhe nicht zu stören, undeutlich erkannte man das reglose Weiß nebenan. Ottone schlief also ruhelos im Stehen, wachte über Adelaides Schlaf und zugleich über seinen eigenen.
«Hast du wirklich nicht geschlafen?», versicherte sich Giulia, selbst aus der übergreifenden Trägheit herausschlüpfend.
Doch schon hatte Ottone, um Adelaide nicht zu erschrecken, zwei oder drei Kerzen auf dem Tisch im Wohnzimmer angezündet, und von der Antike wohlberaten in Bezug auf Giulias späten Besuch, hieß er die Enkelin kein bisschen verwundert am Tisch Platz nehmen, um ihr über die Papiere, die Wörterbücher, die Scheren und die neben der Krawatte gestapelten Päckchen hinweg die schon angebrochene Keksschachtel hinzuhalten.
«Bediene dich», sagte er, «alles für dich vorbereitet.»
«Dabei komme ich doch sonst nie um diese Zeit vorbei», staunte das Mädchen, im Kerzenschein die knochigen Hände des Großvaters betrachtend, die im Ausgleich zu der Unordnung still auf den Papieren lagen. Auch die Augen verschluckten die Falten, blickten direkt auf Giulia und auf die Wand hinter Giulia: um dort im Halbdunkel zwischen den Rissen, den feuchten Flecken und den Bildern das heil gebliebene Fresko zu lesen, das noch ganz zu entdecken war.
«Schminkst du dich etwa?»,