Die Wölfin. Leo Tuor

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Название Die Wölfin
Автор произведения Leo Tuor
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552055



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      Es war eine Überschwemmung. Rauschen, gurgeln, strömen, ein Dröhnen in den Ohren. Herausgerissen werden aus dem Mutterschoß. Der schmale Weg durch den Geburtskanal hinaus ins Neue, das sich öffnet. So also war die große Welt, die sich ihm Wehe um Wehe aufgenötigt hatte: hell, hart, kalt.

      Und er war ein Bub, und das Runde musste gerade werden, der Kreis zur Linie.

      «Die Kindbetterin, dem Bösen besonders ausgesetzt, soll nicht ins Freie gehen, bevor sie in der Kirche war», hatte der Schwarzrock damals gesagt. «Oder nur mit Schirm oder mit einer Schindel auf dem Kopf, oder verkleidet, damit man sie nicht erkennt, wenn sie vorher unbedingt ins Freie muss», ergänzte Großvater, der die Regeln auch in ihren Varianten kannte.

      Hatte der Schwarzrock, wie sie den Pfarrer nannte, zu Oria gesagt. Sie war Mutter geworden, war des Schwarzrocks unendlich langer Knopfreihe zuvor noch nie so nah gewesen und stellte sich vor, wie es wäre, wenn der Wanst des Mannes im Talar vor ihr sich noch mehr blähte, sodass die breite Schärpe um seinen Leib schließlich platzen und die winzigen Knöpfe einer nach dem andern – pingpingping – vom Bauch wegspringen würden. Und der Schwarzrock war ein Dicksack, und der Dicksack ein Einflüsterer, der über sie hinmurmelte, auf dass der böse Feind ihr nicht schaden könne, «nihil proficiat inimicus in ea.»

      Die Benediktiner, seine Lehrer, wollten nicht allzu viel bemerken. Uneinnehmbare Festungen waren sie, seine Lehrer. Es war die Zeit des Totalunterrichts. Das ist eine schwarze Tafel an der Wand, ein Lehrer in einer weißen Arbeitsschürze hinter einem Pult, eine Büchermauer auf dem Pult, dahinter die Bänke mit je zwei Schülern. Die Streber zuvorderst, Gesindel und Giraffen ganz hinten. Die Duckmäuser an den Seiten. In den Bänken hat er gelernt, ruhig zu sein, das zu sagen, was sie hören wollten. Sie wollten ab der ersten Klasse hören, dass man nicht für den Lehrer zur Schule gehe, dass die Strafe auf dem Fuß folge, dass der Krug zum Brunnen gehe. Stopp. Ein gehender Krug, das interessierte ihn. Ein Krug mit Vogelbeinen und vielleicht auch mit Flügeln. Hatte er eine Kappe auf? Der Krug hatte eine Kappe auf. Und schon war er in einer andern Welt als der des dahindozierenden Lehrers.

      In der Schule hat er gelernt, so zu tun, als ob er dem Lehrer zuhöre, während sein Kopf woanders war, zum Beispiel bei der Geschichte vom Krug, der ging und noch viel mehr konnte als das. Diese Technik des vorgetäuschten Zuhörens bei gleichzeitigem Träumen hat sein Hirn geschult. Er lernte so, zwei Dinge zugleich zu tun: an seiner eigenen Ge­schichte zu spinnen und dabei doch dem Lehrer zuzuhören, um die gewünschte Antwort geben zu können und nicht aufzufallen.

      Es gab zu jener Zeit viele Schulen: den Kindergarten mit der Tante, die zeigte, wie man sang und betete, dann die Schule, wo man lesen, schreiben und rechnen lernte, dann die Sekundarschule der Großen, die schrecklich lang wa­ren, eine picklige Haut und einen viel zu großen Kehlkopf hatten und halb erwachsen rochen, und dann noch die Schule des Lebens. Von dieser erzählte der Lehrer am meisten. Sie werde jenen den Kopf zurechtrücken, denen der Lehrer die Hörner nicht genügend habe abstoßen können.

      Großvater hatte etwas anderes gesagt. Die Schule des Le­bens sei ein Kindergarten. Das habe ich erst mit vierzig begriffen.

      Die Mädchen rochen in den ersten Klassen noch wie wir. Nicht besser, nicht schlechter, und ihr Atem war derselbe. Das sollte sich ändern, gründlich.

      Eine Stubenecke war mit Heiligenbildern voll gehängt. Über dem Kanapee schaute ein großer heiliger Josef von der Wand. Der Bub stellte sich vor, dass er die ­Au­gen rolle. Manchmal sah man das Weiße, manchmal streckte er auch die Zunge heraus, aber nur wenn Großmutter ihm den Rücken gekehrt hatte. Manchmal hatte er auch ein Blümchen im Mundwinkel. Er krampfte wie ein Kuli, war über die Maßen solid. Wenn es sein musste, konnte er sich auch beeilen. Das hätte man ihm eigentlich gar nicht zugetraut. Schwupps den Esel und seine Siebensachen und die Muttergottes und den Herrgott nehmen und nach Ägypten verschwinden.

      Tscholi oder Held, Handlanger oder Ziehvater, dieser Heilige hat ihn immer beschäftigt. Fast noch mehr als jener, den sie an den Marterpfahl gebunden und über und über mit Pfeilen gespickt hatten, als ob er unter die Indianer gefallen wäre.

      Wenn sie als Knirpse Verstecken spielten, schloss er fest die Augen, und keiner konnte ihn sehen. Dann haben sie ihm diesen Glauben genommen.

      Jeglichen Glauben haben sie ihm genommen: das Christkind, den Nikolaus, den Hasen, den Aberglauben und den richtigen. Haben deutlich gemacht, dass es nur den einen gebe: den Glauben ans Geld, der sie umtreibt wie die dicken Fliegen um die Lampe.

      Eines Tages hieß es, der Pfarrer sei Kanonikus geworden. Was das genau ist, weiß ich bis heute nicht. Großvater sagte, das habe etwas mit der Postur zu tun, vor allem mit dem Nacken, und quittierte die Nachricht mit dem Reim:

      «Kanonikus Kanaster

      stiehlt Maudimutz den Zaster.»

      Das trug ihm einen wenig freundlichen Seitenblick von Großmutter ein. Da begann Großvater des Langen und Breiten zu dozieren über Kanoniker und Kanoniere, Kanonisten und Kanonissen, bis wir nicht mehr wussten, wo uns der Kopf stand. Großvater war ein großer Freund der Wörter und wusste, woher sie kamen. Er sagte, die Wurzel all dieser Wörter sei babylonisch, und schüttelte dann allein für das Wort Kanon dreizehn verschiedene Bedeutungen aus dem Ärmel, bis Großmutter Hör auf! sagte, worauf er seine Ausführungen mit dem Wort Kanone beendete, das er von canna, Spazierstock aus Meerrohr, herleitete, sodass er auf seinem tour d’horizon, wie immer, bei einer seiner bevorzugten Gerätschaften angelangt war: bei einem Ding mit einer Krümmung.

      «Eins, zwei, drei

      das Huhn sitzt auf dem Ei.»

      Was war zuerst, das Ei oder das Huhn?, wollte Groß­vater wissen, während er mit zwei Eiern in der Hand aus dem Hühnerstall trat und sein Schnauz sich hin und her bewegte. Am einen Ei klebte ein Endchen Stroh, und in seinem Mundwinkel klebte ein Zentimeter erloschene Toscani. Man musste gut hinschauen, um sie zu sehen.

      Am Anfang war das Wort, il vierv, hatte es im Religionsunterricht geheißen. Also muss das Ei, igl iev, vor dem Huhn da gewesen sein, denn vierv und iev klingen gleich, machte sich der Bub seine Gedanken. Aber es kam drauf an, ob man im Hühnerstall war oder im Religionsunterricht oder sonstwo.

      Am Anfang des Lesebuches war der Gnom. Er hielt eine Tafel, die mit Blättern und Blumen umkränzt war – wie jene, die am Musikfest am Eingang und am Ausgang des Dorfes über der Straße hingen. Der Gnom trug einen schwar­zen Mantel und auf dem Kopf einen Riesenhut. Darunter hingen die Haare weit über die Ohren, und der Bart, den er mit der Faust unter dem Kinn zusammenhielt, war so lang wie der Mantel. Er hatte eine runde Brille auf, die Augen waren zwei kleine Knöpfe. Er war etwas zwischen Sankt Nikolaus und einem Dompteur. Die rechte Hand bedeutete einem, still zu sein, der Zeigefinger war mahnend erhoben. Unterm linken Arm war der Stock bereit, und auf der Tafel stand blau geschrieben, was er gesagt hätte, wenn er aus dem Buch gestiegen wäre:

      «Kleiner Knirps, nimm dich in acht,

      behandle nicht das Büchlein schlecht!

      Machst du ihm Ohren, Risse, Flecken,

      musst du fürchten meinen Stecken.»

      Am Anfang des Lesens war die Drohung.

      Der Schwarzrock hatte den Kindern verboten, ohne Grund durch den Friedhof zu gehen, nur weil es die Ab­kürzung war auf dem Weg in den Dorfladen. Er wolle ab sofort keinen mehr erwischen. Und die Gittertore seien geschlossen zu halten, damit keine Hunde hin­eingingen.

      Er fürchtete den Herrn Kanonikus. Von da an nahm er nur noch zusammen mit Großvater und Großmutter die Abkürzung durch den Friedhof. Die Großen, so hatte er festgestellt, machten nicht immer, was der Schwarzrock sagte. Jedes Mal schaute er zum Chris­tophorus hinauf, der groß wie ein Ochse neben dem Portal an die Kirchturmmauer gemalt war. Jedes Mal, wenn man durch den Friedhof ging, musste man an ihm vorbei. Jedes Mal bekreuzigte sich Großmutter und sagte leise ein Gebet. Jedes Mal fuchtelte Groß­vater in der Luft herum und deklamierte laut:

      «Heiliger Stoffel groß und fest,

      Hat getragen Jesum Christ.