Название | Die Wölfin |
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Автор произведения | Leo Tuor |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552055 |
Der Kleine thront wie ein Pascha in seinem Sitz, döst in der Sonne, zieht regelmäßig am Schnuller mit dem Ring. Hört von fern Großvaters Stimme, wie er mit halb aufgeknöpfter Weste ihnen beiden, zahnlos und kahl, die Politik der weiten Welt erklärt.
Großmutter war die Tochter eines anderen.
Deswegen brauchte sie sich nicht zu grämen. Außer ihrer Mutter wusste das niemand. Ihr Herrgott wusste es vermutlich auch, aber den schien es nicht groß zu beschäftigen, wer von wem sei. Er war ein Herrgott, der sich nicht in private Angelegenheiten einmischte. Ein Herrgott, der kein Waschweib zu sein schien.
Entscheidend war, dass die Leute von nichts wussten.
Kommts drauf an, woher man kommt? Die Leute wollen die Dinge an ihrem Platz wissen. Wenn die Leute wüssten, was in einem Dorf so alles geht und läuft, wüssten, wer tatsächlich von wem ist, wüssten, wer wie viel hat!
Die Leute, das ist eine Nase auf zwei Beinen. Diese Nase ist überall. Sie geht durch die Straßen wie der Pikenträger an der Landsgemeinde, benimmt sich wie der Pikenträger, ist angezogen wie der Pikenträger, hat einen Dreispitz auf wie dieser, mit einer Ecke nach vorn und zwei nach den Seiten, und hintendran gerade. Die Nase verbeugt sich tief nach vorn und hinten. Bis zum Boden.
Die Mutter war ein Problem. Sie war stillgestanden. Hatte die Gefühle verloren. War verfangen in der Missetat ihres Mannes, welche sie nicht mehr losließ. Und konnte nicht über dieses Grauen sprechen. Das Schweigen ist ein Kleister, der die Seele ans Fleisch pappt. Die Mutter war ein Gesicht, das sich nur noch in die Länge zog. Ihre Hand verdorrte. Der Bub wünschte aus ihrer Hand lesen zu können, wie alt sie würde. Sie ist steinalt geworden.
Die Mutter war ein kalter Specksteinofen.
«Ho, ho, ich meint’ in blondem Haar zu wühlen und muss nun hier zwei wüste Hörner fühlen.»
Gebhard Stuppaun, Die zehn Lebensalter, Ardez 1564
Alle, die ihm mit der Hand über den Kopf gestrichen hatten, waren erschrocken und verstummt. Da wuchs einer heran, nahm Tag für Tag an Größe und Weisheit zu und bekam Hörner.
Nach diesen Worten nahm der Großvater die Brille von der Nase und erhob sich feierlich. Wurde vom Erzähler zum Moses, der soeben am Fuß des Berges die Gesetzestafeln zerschmettert hatte.
Er hatte, in Pantoffeln, etwas sehr Wichtiges gesagt.
Als wir klein waren, durften wir den Fernsehapparat nicht anrühren, geschweige denn Knöpfe drücken oder gar drehen.
Hände weg vom Parat, sagte Großvater, halb zum Spaß, halb im Ernst. Die Abkürzung gefiel ihm. Er machte banale Verse und sagte sie her, wann immer ihm die Kiste in den Sinn kam:
Darf er nicht an den Parat
wird der Bub gleich rabiat.
Vom Parat herunter schaute mit entschlossener Miene die Büste eines Bruder Klaus aus gelblichbraunem Holz mit langem, bärtigem Asketenschädel. Etwa ab der Stelle, wo der Bub zu jener Zeit das Herz des Menschen vermutete, war der Rest des Körpers abgeschnitten. Um sich nicht einen entzweigesägten Körper vorstellen zu müssen, redete er sich ein, der Rest des Körpers stecke im Parat, aber die Arme waren halt doch verstümmelt. Diese Figur, wie sie so schaute und schaute, hatte etwas Beunruhigendes.
Rechts vom Heiligen bewahrte Großvater seinen Feldstecher auf. Finger weg vom Feldstecher. Finger weg vom Parat.
In jenen Jahren, da die Großmütter Kinder kriegten, gab es Piusse und Pias am laufenden Meter. (Der weibliche Pius ist die Pia, nicht die Piua. Piua nannte Großvater die einzige Kuh des Pius, bei welcher ein Horn ziegenartig nach hinten zeigte, das andere geradeaus nach vorn.)
In hellen Scharen waren die Kinder nach den beiden Päpsten Pius XI. und Pius XII. getauft worden, die aufeinander gefolgt waren. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts hatte es einen Pius gegeben, und etwa um die Mitte des vorhergehenden Jahrhunderts hatten ebenfalls drei Piusse regiert.
Die Piusse hatten aufgeräumt. Einer hatte dem Jesuitenorden wieder auf die Beine geholfen, einer hatte in Sachen unbefleckte Muttergottes sauberen Tisch gemacht und der Welt weisgemacht, dass der Papst unfehlbar sei. Einer hatte den Modernismus bekämpft und war vom übernächsten Pius heilig gesprochen worden. Pius XI. hatte knüppeldick Enzykliken zu Ehe und Erziehung herausgegeben, hatte dem Kommunismus den Tarif erklärt und sich von der Ökumene distanziert. Der letzte Pius war ein Monarch gewesen, runde Brille, gläserner Blick, hatte weiterhin den Kommunismus gepiesackt und verkündet, «nachdem Wir nun immer wieder inständig zu Gott gefleht und den Geist der Wahrheit angerufen haben», dass es eine von Gott geoffenbarte Glaubenswahrheit sei, «dass die unbefleckte, immer jungfräuliche Gottesmutter Maria nach Vollendung ihres irdischen Lebenslaufes mit Leib und Seele zur himmlischen Herrlichkeit aufgenommen worden ist», um dann sofort auf die Konsequenzen zu sprechen zu kommen: «Wenn daher, was Gott verhüte, jemand diese Wahrheit, die von Uns definiert worden ist, zu leugnen oder bewusst in Zweifel zu ziehen wagt, so soll er wissen, dass er vollständig vom göttlichen und katholischen Glauben abgefallen ist.» Das war jene Ankündigung vom ersten elften neunzehnhundertundfünfzig.
Er hat ein Problem, hatte Oria kommentiert.
Großmutter hatte an die Wand gleich unter die Kuckucksuhr einen Pius XII. gehängt, wie man ihn im Dorf von Tür zu Tür verkaufte. Er posierte in einem Oval aus Bronzeguss, welches wiederum auf einen Rhombus aus lackiertem Tannenholz geklebt war. Ein Pius im Profil, das Käppchen auf dem Hinterkopf, die Lippen schmal. Der Bub stellte sich vor, dass der Papst nie rennen konnte, ja nicht einmal mit dem Kopf nach hinten lehnen durfte oder sich nach vorne beugen und zwischen den Beinen hindurch die Welt hinter sich umgekehrt betrachten konnte, weil er sonst jedes Mal sein Käppi verloren hätte. Was für ein Leben musste das sein.
Später war dem Bub in Vaters Knaur, dessen Rücken ganz zerfranst war vom vielen Herausziehen aus dem Regal, etwas aufgefallen. Die Fotografie des gleichen Pius fand sich da neben dem Bild des Francisco Pizarro, Marqués de los Charcas y de los Atabillos. Beide hatten dieselben Augen und denselben Mund und dieselben glatten Wangen. Der eine mit Bart und Helm und Federn und Flaum, der andere mit Käppchen und bartlos und mit derselben Physiognomie aus Stahl.
Wer hatte auf seinen Vater geschossen in den Bleisas Verdas? Wie lange hatte der Schuss in den Felsen widerhallt? Hatte der Räuber den Schuss gehört? Hatte der Vater den Schuss gehört, das Feuer im Elsass gesehen? Wie ist es, wenn eine 270er-Kugel in den Körper dringt, das Fleisch zerfetzt? Wie sieht ein Finger aus, der sich ohne Zittern zum Schuss auf einen Menschen krümmt?
Dein Vater hatte il rir homeric, das homerische Lachen. Der Bub dachte an America.
Dein Vater hatte das Lachen, das nicht unterdrückt werden kann. Das rohe Lachen der alten Götter, das gnadenlos in den Schattenwänden des Kaukasus donnerte. Bei Rabelais wird noch so laut und öffentlich gelacht, im Don Quijote noch laut. Ab dem achtzehnten Jahrhundert wird das Lachen besänftigt. Jetzt ist das Lachen entwischt.
Dein Vater gehörte zur Alten Welt.
Für ihn ist es besser so, sagten sie zur Mutter, weil sie nicht wussten, was sie sagen sollten.
Pieder Paul Tumera, genannt Turengia, war sich nicht so sicher, dass es für den Toten so besser sei. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass sein Armstumpf ihn in bösen Momenten bis in die Fingerspitzen hinaus schmerzte. Schlimmste der Möglichkeiten war also, dass der Leib vergangen sein mochte, die Hölle aber blieb. So spekulierte Großvater – ha! – wie Ahab, der wider die dunklen Mächte gewettert hatte: «Und wenn mich mein zermalmtes Bein immer noch schmerzt, wo es sich doch längst in ein Nichts aufgelöst hat, wäre es da so ganz undenkbar, Mensch, dass du die Glut ewiger Höllenpein spürst, ganz ohne Körper? Ha!»
«In Ansehung der Kleidung soll die Gebährende leicht gekleidet und nirgends gebunden, oder beschwert seyn, auch das Tragende leicht gewechselt werden können.»
Leitfaden zum Unterricht für Hebammen und ihre Lehrer, 1807
Er