Equus Lost?. Francesco De Giorgio

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Название Equus Lost?
Автор произведения Francesco De Giorgio
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783840464942



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solche Augenblicke des Lernens zu erkennen und zu respektieren.

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      Alles und jeder kann ein aktiver Teil einer Lernerfahrung und Beziehung werden. Jedes Element eines Kontextes, lebend oder nicht, kann ein Hauptdarsteller werden und die kognitive Karte dieses Augenblicks, dieses Lernens, dieser Beziehung bereichern.

      KOGNITION UND WOHLBEFINDEN

      Obwohl das Verständnis für die tierische Kognition ein wichtiges Thema und ein entscheidendes Element für die Förderung der Lebensqualität von Pferden ist, ist darüber noch wenig bekannt. Wir müssen den kartesischen und performativen Ansatz im wissenschaftlichen Kontext loslassen, da er zu reduktionistisch ist und oft im Dienst der Welt des Pferdesports steht: Dieser Ansatz konzentriert sich darauf, wie man ein Pferd trainiert und seine Leistung steigert, anstatt seine Wünsche richtig zu interpretieren und seine soziokognitiven Fähigkeiten zu bewahren. Gesundheit, Wohlbefinden und Kognition sind eng miteinander verbunden. Sprechen wir Pferden ab, ein Bewusstsein zu haben, oder ignorieren wir, dass sie kognitive Wesen sind, ignorieren wir ihr tiefes und angeborenes Bedürfnis zu verstehen, was um sie herum geschieht. Wir ignorieren, dass sie ihre Umgebung verstehen, ihre eigenen Erfahrungen machen und sich ausdrücken möchten. All dies zu vernachlässigen erzeugt Spannungen aus mentaler, emotionaler und physischer Sicht. Je länger wir die Pferdekognition aus einer anthropozentrischen – also einer auf den Menschen zentrierten – Perspektive betrachten, desto weniger können wir die reale emotionale, soziale und mentale Wahrnehmung des Tiers verstehen. Daher ist eine Analyse und Interpretation unter einem völlig neuen Gesichtspunkt erforderlich.

      WAS IST EINE KOGNITIVE UMGEBUNG?

      Pferde, die in einem sozialen Kontext und in einer angereicherten natürlichen oder naturnahen Umgebung leben, leben in einem Umfeld, das ihre Erfahrung und ihr Lernen in der Gesellschaft fördert, zu der sie gehören. Die Dynamik von Interaktion, Beobachtung und Informationsverarbeitung ist kontinuierlich: Sie wird auf der Weide, während eines Spaziergangs, in einem Augenblick des gemeinsamen Stillstehens und bei der Beobachtung der Wahrnehmung eines anderen Pferdes implementiert.

      Wie bei anderen Arten haben auch Pferde, die in einem vertrauten oder familienähnlichen Kontext leben, ihre eigene kulturelle Übertragung. Die Tatsache, sich zu kennen, Augenblicke miteinander erlebt zu haben, und die Freiheit zu haben, sich auszudrücken, gibt Pferden aus einer Familie oder einer familienähnlichen Gruppe eine detaillierte Lesart, die es ihnen ermöglicht, auf Absichten des anderen zu reagieren, indem sie sich gegenseitig beobachten.

      Es können sich auch verschiedene soziale Interaktionen entwickeln, wie etwa eine Vorkonfliktdynamik (in der ein Pferd sich zwischen zwei andere Pferde stellt, die kurz vor einem Konflikt stehen), affiliatives Verhalten (Verhalten, das den Gruppenzusammenhalt stärkt) und gemeinsame Entdeckungen. Sie berücksichtigen die soziale Dynamik und garantieren folglich einen kognitiven Kontext.

      Pferde können Erfahrungen austauschen und voneinander lernen. Jüngere Pferde können lernen, indem sie Ältere und Erfahrenere beobachten. Ebenso kann ein erwachsenes Pferd von einem jüngeren lernen. Diese Dynamik wird als „soziales Lernen in einem soziokognitiven Kontext“ bezeichnet. Zusammenleben bedeutet in diesem Zusammenhang, Erfahrungen auszutauschen und verschiedene Ausdrücke zu lernen, in einer Art Dialog, in dem jede Beziehung einzigartig ist und sich ständig weiterentwickelt. Der Reichtum dieser Erfahrungen hängt von den einzelnen beteiligten Pferden ab. In ähnlicher Weise verringern sich die Bedingungen für soziokognitives Lernen, wenn die Umgebung zu dynamisch, zu wettbewerbsorientiert wird oder wenn es keine Elemente gibt, die das gemeinsame Erleben unterstützen. Erfahrungsaustausch ist entscheidend, um eine kognitive Umgebung zu schaffen, die die Möglichkeit bietet, sowohl den Kontext als auch einander besser zu verstehen. Das gilt nicht nur für ein junges Pferd, sondern für jedes Pferd und für jede Beziehung. Es ist jedoch auch wichtig zu verstehen, dass das Zusammenstellen mehrerer Pferde nicht automatisch bedeutet, dass ein sicheres soziales Umfeld geschaffen wird. Die meisten Pferde in unserer Gesellschaft haben keine familiären Bindungen oder familienähnlichen Gruppen in ihrem Lebensraum und wachsen nicht zusammen auf.

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      Ein Augenblick stiller Eintracht einer Gruppe von Konik-Junggesellenpferden in den Niederlanden.

      ERHALTUNG SOZIOKOGNITIVER FÄHIGKEITEN

      In demselben Umfeld zusammenzuleben ist nicht dasselbe, wie gemeinsam Erfahrungen in einem soziokognitiven Zusammenhang zu machen, insbesondere wenn kontinuierlich soziale Veränderungen stattfinden. In vielen Situationen sind Pferde eher damit beschäftigt, sich zu verteidigen, als sich gegenseitig kennenzulernen und zu verstehen. Der Mensch kann eine entscheidende Rolle dabei spielen, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Tiere Erfahrungen austauschen können, beispielsweise durch das gemeinsame Erkunden eines Ortes. Viel zu oft sind Pferde stattdessen einer anderen Dynamik ausgesetzt. Pferdebesitzer betreten Koppeln und Paddocks meist, um ihr Pferd aus der Gruppe herauszuholen, statt dort Zeit mit dem Pferd zu verbringen und genau zu beobachten, in welcher Umgebung und in welcher Situation die Pferde leben.

      Die Kognition von Pferden kann nur in einem Kontext garantiert werden, in dem ihre ethologischen Bedürfnisse respektiert werden und in dem sie ihre Persönlichkeiten und Wünsche ausdrücken können, ohne ständig Druck, Verstärkung, Konditionierung und menschlichen Anforderungen ausgesetzt zu sein. Dies allein reicht jedoch nicht aus.

      Um Kognition und kognitive Strukturen zu schützen, müssen alle Elemente beseitigt werden, die zu reaktiven Erfahrungen führen können, wie z. B.:

      •vorzeitiges Absetzen von Fohlen;

      •soziale Isolation;

      •unter Druck oder Leistungsangst leben;

      •Verhaltenstraining;

      •in einer unbekannten Gruppe leben, häufig umziehen bzw. häufige Veränderungen (auch mit gleichbleibenden Pferdepartnern);

      •die Verwendung von Gebissen, Sporen, Hufeisen;

      •kein Raum für explorative Augenblicke im Umgang mit dem Menschen;

      •ergebnisorientierter menschlicher Monolog, ohne dass das Pferd sich subjektiv einbringen kann.

      Kognitive Fähigkeiten zu bewahren, bedeutet, einen kognitiven Kontext sicherzustellen, in dem ein Pferd leben wird. Einen Kontext, in dem die spezifischen ethologischen Bedürfnisse der Pferde respektiert werden, wo sie sich aber auch selbst ausdrücken können, ihre Umgebung verstehen und wo sie nicht unaufhörlich in ihrer Interaktion mit Menschen Druck und Erwartungen ausgesetzt sind. Viele Pferde leben vom Moment der Geburt an in Stresssituationen. Das vorzeitige Absetzen von Fohlen, die soziale Isolation, das Leben in unbekannten und instabilen Gruppen, das Verhaltenstraining und der auf Leistung ausgerichtete Lebensstil des Menschen wirken sich erheblich auf die kognitiven Strukturen und die Gesundheit des Pferdes aus.

      Da die soziale Kognition stark durch die Wahrnehmung jedes einzelnen Pferdes bedingt wird und von allen genannten Elementen abhängt, muss man lernen, sich in Pferde und in die Situation, in denen sie sich befinden, hineinzudenken. Wir müssen einen ganzheitlicheren Ansatz verfolgen, um eine Beziehungsdynamik zu verstehen, da diese mit einer Methode weder erfasst oder erreicht werden kann. Das wäre, als würde man eine Methode für eine glückliche Mensch-Mensch-Beziehung finden wollen.

      Auch wenn viele sicher schon versucht haben, dies in einer Formel festzuhalten, muss jede einzelne Beziehung am Ende erlebt werden. Und genau darin liegt die Schönheit von Beziehungen. Jede gesunde Beziehung ist eine einzigartige Interaktion in ständiger Weiterentwicklung. Mit jeder neuen Erfahrung, wachsen die Beteiligten und erwerben neue Möglichkeiten, die Welt zu sehen und zu verstehen. Eine Beziehung, die auf Kognition beruht, kann in keinem Handbuch erklärt werden, als wäre sie eine Maschine oder eine mathematische Gleichung. Sie erfordert ein Bewusstsein für all die Variablen innerhalb der Beziehungsdynamik.