Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens. Yungdrung Wangden Kreuzer

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Название Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens
Автор произведения Yungdrung Wangden Kreuzer
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783867813464



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»Regenbogenkörper«. Er ließ nicht einmal Haare und Nägel zurück.

      Der Buddha lehrte, dass alles, dem wir ein Sein und Wirklichkeit zuschreiben, uns nur als solches und als dauerhaft und fest erscheint, weil wir uns an diese Sichtweise und Zuschreibung seit Langem gewöhnt haben und diese selektive Sichtweise mit Gedanken und Worten immer wieder festhalten. So ist es auch mit unserem Körper. Dauerhaftes Festhalten an Körper, Ich und Welt erzeugt die Illusion einer scheinbar dauerhaften Existenz, die vollkommen illusionär ist. So heißt es in einem Sutra: »Mit dem Denken erscheinen die Myriaden von Welten, wenn das Denken aufhört, so verschwinden diese.«

      So erscheinen alle Welten für einen Buddha als sein eigener Geist und als sein eigenes Licht und reine Energie, für jene aber, die noch im Denken und Wünschen befangen sind, erscheinen sie als eine eigenständige Wirklichkeit, als Körper, Ich und Welt, als Gott und Teufel, als Leben und Tod, als ein Etwas oder als drohende Vernichtung, als zu Begehrendes oder zu Fürchtendes, als Fremdes, Gewaltiges und Übermächtiges. Bis endlich ein jedes Wesen Buddha wird, indem es wieder zu sich kommt und erwacht, werden leider noch viel nichtluzide, von Ignoranz und den Störgefühlen bestimmte Träume erlebt werden, doch sie alle sind vergänglich und ohne wirkliche Substanz.

      Das aber, was wirklich ist, ist von selbst wirklich und damit beständig, und was nur zugeschriebene Wirklichkeit besitzt, muss immer neu gedacht, behauptet und geglaubt werden; und es verschwindet augenblicklich, wenn man nicht daran denkt. So ist es zum Beispiel mit allen Gedanken und Vorstellungen von uns selbst. Wir denken etwas, und im selben Augenblick löst es sich auf, denn es hat keine Wirklichkeit.

      Vergänglich sind alle Träume von Welt und Mensch, von Dämonen und von Gott – Träume, in denen der Sinnende den Sinn sucht, Geist den Geist begehrt und hasst und verblendetes Denken, immer zwischen eingebildeten Gegensätzen kreisend, seine eigenen Schöpfungen für wirklich haltend, das Rad des Lebens antreibt und sich in immer neuen Gestalten verkörpert.

      Alle Dinge, Gefühle und Gedanken sind ohne Zweifel vergänglich, nicht verlässlich, und so erweisen sich all unsre Bemühungen im Lebenstraum, diese zu erwerben und festzuhalten, als vergeblich und werden von der Gewissheit unseres Todes als dem sicheren Ende dieses Traums immer kontrastiert und infrage gestellt.

      Vergeblich sind unsere Bemühungen um Ansehen und Anerkennung, mühsam ist es, Besitz zu erwerben, eine Stellung zu erreichen und zu halten – mühsam wie das Mühen des Sisyphos, der dazu verdammt ist, immer wieder einen Felsen den Berg hinaufzuwälzen. Oben angelangt, versucht er, diesen festzuhalten, um gleich darauf mit ansehen zu müssen, wie er ihm entgleitet und wieder den Berg hinabrollt.

      Das Hinaufwälzen und Festhalten ist voller Mühen, das Hinabrollen und Im-Talgrund-zur-Ruhe-Kommen aber völlig mühelos, denn es folgt der Natur der Dinge. Das gibt uns also zu denken über Vanitas und Wahn, über Schein und Sein und über das Vergebliche und Verblendete oder Sinnvolle in unserem Tun und Streben. Alles, was angehäuft wurde, wird wieder zerstreut. Was sich getroffen hat und eine Zeit lang unzertrennlich schien, geht wieder auseinander.

      Wir treffen uns hier, um gemeinsam zu praktizieren; und ein paar Stunden später ist der Raum, wo wir zusammen waren, wieder leer. Und so ist es mit allen Dingen und Situationen. Nichts davon bleibt – alles ist vergänglich.

      Die Ursachen von Leid und Glück im eigenen Geist erkennend, stellt sich Sisyphos nicht mehr gegen die Vergänglichkeit und den Tod und damit gegen das göttliche Gesetz. Er lässt alles los, an dem er mühevoll festgehalten hat, und läuft irgendwann nicht mehr flüchtigen Erscheinungen hinterher wie ein Narr.

      Hermann Hesse schreibt in einer seiner Erzählungen, es sei alles so einfach. Die ganze Kunst sei, sich fallen zu lassen! Habe man das einmal getan, habe man einmal sich dahingegeben, sich anheimgestellt, sich ergeben, einmal auf alle Stützen und jeden festen Boden unter sich verzichtet, höre man ganz und gar nur noch auf den Führer im eigenen Herzen, dann sei alles gewonnen, dann sei alles gut, man habe keine Angst mehr, es bestehe keine Gefahr mehr.

      Eine wunderbare Stelle, die genau den Kernpunkt beschreibt: Wenn wir selbst nichts mehr festhalten, dann ist alles befreit.

      Dann ist der Fluch und auch das schwere Schicksal des Menschen »Sisyphos« aufgehoben, die nur in der eigenen Anhaftung bestanden.

      Das Leben erscheint ihm nun auch öfter wie ein Traum und leicht – er träumt, dass er träumt; und sich beim Träumen beobachtend, erkennt er, dass alles, was ihn scheinbar hemmte, band und zwang, immer nur sein eigenes Denken, sein Widerstand und Begehren oder dessen Folge war. Er kommt zur Ruhe und irrt nicht mehr dahin in den Gängen des Labyrinths des Denkens, in seinem unbewussten Lebenstraum Vergnügen suchend und dem Leid entfliehend. Er tritt hinaus in die frische Luft der offenen Weite, und gleichsam über sich schwebend schaut er den Spielplan des Lebens. Das Labyrinth in seiner Gesamtheit schaut er dann in sich selbst, und schauend versteht er, wie eines aus dem anderen folgte und wo der Anfang und der Ausgang aus dem Labyrinth des eigenen Denkens sind und dass das torlose Tor zur Freiheit immer offen steht.

      Alle Gedanken kommen aus dem Zustand des Nicht-Denkens, dem Ungeborenen, so erkennt er; und zu guter Letzt über alles Denken und Glauben, über jede Vorstellung hinausgehend, erfährt er alle scheinbaren Gegensatzpaare des Spiels, wie Leben und Tod, Ordnung und Chaos, Selbst und Welt, Schein und Sein und alle anderen dualistischen Konzepte und Wahrnehmungen als immer schon aufgehoben, immer schon vereint und erlöst in der alles umfassenden Weite des eigenen ungeborenen, unsterblichen Gewahrseins.

      Wenn uns durch exzellente Belehrungen über das Wesen der absoluten Wirklichkeit des Geistes und der relativen Wirklichkeit seiner Wahrnehmungen, wie zum Beispiel die des Buddha Padmasambhava im Tibetischen Totenbuch oder die in buddhistischen Schriften wie dem Lankavatara-Sutra oder dem Diamant-Sutra und in Dzogchen-Texten wie dem Drönma Drug, den »Sechs Leuchten«, immer klarer wird, dass alles Erfahrbare, die Projektion, die Vorstellung des eigenen Geistes ist, so lösen sich all unsere Erwartungen, Erkenntnis, Liebe, Glück, Beständigkeit und Sicherheit im Außen auf, und wir erfahren den unaussprechlichen Sinn dieser Lehren in der Stille der Meditation.

      Durch häufige Übung erlangen wir Vertrautheit mit unserem ursprünglichen Zustand; und heimgekehrt in uns selbst, wieder zur Ruhe ­gekommen im leeren Gewahrsein aller Buddhas, genießen wir die Fülle der Qualitäten des erleuchteten Geistes, und nichts und niemand kann sie uns mehr nehmen. Erst wenn wir völlige Luzidität erlangen, können wir inmitten der Fülle unserer Visionen frei von Selbstverblendung leben. Frei von Störgefühlen, frei von unnötigen Anstrengungen und frei von Leiden. Frei von dualistischen Gedanken sind wir glücklich, denn wir erfahren uns als eins mit allem und alles als eins mit uns.

      Das ist der Erfahrungsmodus eines Buddha, eines völlig erwachten Wesens. Das ist der höchste Level von Lebenskunst und Sterbekunst, und alle Kunst und jede Methode können dann vergessen werden.

      Ein altes chinesisches Zen-Gedicht sagt: »Das Wort des Buddha hilft uns, des Denkens Raum zu überqueren. Ist still geworden der Gedanken Spiel, was braucht es dann noch des Buddha Lehren?«

      Wenn wir glücklich sind, ohne glücklich sein zu wollen, wenn wir nichts anderes mehr wollen als das, was wir bereits haben. Nichts anderes mehr werden wollen als das, was wir bereits sind.

      Zurückgekehrt zum Urzustand des Geistes, luzide, wie vor dem Fall in die projektive Fehlwahrnehmung, sind wir eins mit der Wahrheit, eins mit Gott. Und alles Gute in uns selbst besitzend, verstehen wir nicht mehr, wie wir auf das Zukunftsversprechen der Schlange im Paradies, »Ihr werdet sein wie Gott und Gutes und Böses erkennen«, dieses falsche Versprechen, das uns ins Werden und damit in die Illusion einer linearen Zeit und in den zwanghaften Prozess dualistischen Denkens und ­Werdens geführt hat, jemals hören konnten. Auch dies ist eine gleichnishafte Szene und ein starkes Bild dafür, wie wir in den nichtluziden Modus der Fehlwahrnehmungen geraten sind.

      Die Dzogchen-Lehren zu diesem Thema sind außerordentlich