Der Defizit-Mythos. Stephanie Kelton

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Название Der Defizit-Mythos
Автор произведения Stephanie Kelton
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783944203614



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ich plädiere, fordert von der Bundesregierung keine geringere, sondern größere finanzpolitische Verantwortung. Wir müssen einfach neu definieren, was es bedeutet, verantwortlich mit unseren Ressourcen hauszuhalten. Durch unsere falschen Vorstellungen zum Defizit bleibt in unserer Wirtschaft aktuell so viel Potenzial ungenutzt oder verfällt gänzlich.

      Die MMT befähigt uns dazu, Politik und Wirtschaft neu zu gestalten. Mittels vernünftiger Ökonomie hinterfragt sie den Status Quo im gesamten politischen Spektrum, und aus diesem Grund erweckt sie auch weltweit so großes Interesse bei Politikern, Akademikern, Zentralbankern, Finanzministern, Aktivisten und ganz gewöhnlichen Menschen. Beim Blick durch die Brille der MMT erkennen wir, dass eine andere Gesellschaft möglich ist, in der wir es uns leisten können, in Gesundheitsversorgung, Bildung und eine robuste Infrastruktur zu investieren. Statt um Knappheit geht es bei der MMT um Chancen. Wenn wir der Mythen Herr geworden sind und akzeptieren, dass Staatsdefizite unserer Wirtschaft tatsächlich guttun, können wir eine Steuerpolitik betreiben, bei der menschliche Bedürfnisse und das öffentliche Interesse an erster Stelle stehen. Wir haben nichts zu verlieren als unsere selbst auferlegten Grenzen.

      Die Vereinigten Staaten sind das reichste Land in der Geschichte der Menschheit. Doch selbst in Zeiten größter Armut während der Großen Depression schafften wir es, eine Sozialversicherung und den Mindestlohn einzuführen, ländliche Gemeinden zu elektrifizieren, staatliche Wohnungsbaudarlehen bereitzustellen und ein umfangreiches Jobprogramm zu finanzieren. Wie Dorothy und ihre Gefährten im Zauberer von Oz müssen wir die Mythen durchschauen und uns erneut gewahr werden, dass wir die ganze Zeit an der Macht waren.

      Während dieses Buch in Druck ging, schlug das Covid-19-Virus mit voller Härte zu und führte uns die Macht der MMT-Denkart lebhaft vor Augen. Ganze Industrien werden stillgelegt. Die Stellenverluste nehmen zu, und bei einem potenziellen wirtschaftlichen Zusammenbruch könnte die Arbeitslosigkeit wieder so hoch werden wie zuletzt während der Großen Depression. Der Kongress hat bereits über 1 Billion US-Dollar zur Bekämpfung der Pandemie und der sich anbahnenden Wirtschaftskrise bereitgestellt. Wir werden noch viel mehr brauchen.

      Das Staatsdefizit, das vor der Bedrohung durch das Virus auf gut 1 Billion US-Dollar geschätzt wurde, wird in den kommenden Monaten voraussichtlich auf über 3 Billionen US-Dollar ansteigen. Wenn uns die Geschichte etwas gelehrt hat, dann entsteht aus der Angst vor steigenden Haushaltsdefiziten der Zwang zur Senkung der steuerlichen Anreize, um die Defizite niederzuringen. Das wäre eine einzige Katastrophe. Aktuell und in den kommenden Monaten sind höhere Defizitausgaben steuerpolitisch der beste Weg, die Krise zu bewältigen.

      Das nächste Jahr wird für uns alle unglaublich schwer werden. Wir werden in verstärkter Angst leben, bis das Virus gebannt und eine Impfung allgemein verfügbar ist. Viele von uns werden sozial und wirtschaftlich Not leiden. Wir haben bereits genügend Sorgen, um uns noch zusätzlich Befürchtungen zur Haushaltslage der Nation aufzubürden. Jetzt ist der richtige Zeitpunk, einige wichtige Lektionen zu lernen: Wo kommt das Geld her und warum kann die Bundesregierung – und nur die Bundesregierung – einschreiten und die Wirtschaft retten.

      1

      DENKEN SIE NICHT AN EINEN HAUSHALT

      Familien im ganzen Land schnallen die Gürtel enger und treffen schwere Entscheidungen. Die Bundesregierung sollte es genauso machen.

       PRÄSIDENT OBAMA, REDE ZUR LAGE DER NATION, 2010

       MYTHOS NR. 1: Die Bundesregierung muss wie ein Haushalt budgetieren.

       REALITÄT: Im Gegensatz zu einem Haushalt emittiert die Bundesregierung das Geld, das sie ausgibt.

      Wie viele von Ihnen bin ich mit der Fernsehsendung Die Sesamstraße aufgewachsen. Sie brachte kleinen Kindern unter anderem bei, Objekte nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zu sortieren. „Eins von diesen Dingen ist anders als die anderen“, erklang das Lied, bevor es losging. Auf dem Bildschirm erschienen matrixförmig angeordnet vier Bilder: eine Banane, eine Orange, eine Ananas und ein Sandwich. „Das Sandwich! Das Sandwich!“, brüllten meine Schwester und ich dann den Fernseher an. Ich bin zwar kein Kind mehr, aber noch immer brülle ich jedes Mal den Fernseher an, wenn jemand vom Budget der Bundesregierung spricht, als würde es sich in nichts von dem eines Haushalts unterscheiden.

      Wenn Sie jemals die Forderung gehört haben, dass Washington seinen Haushalt in Ordnung bringen muss, dann haben Sie eine Version des Haushalts-Mythos gehört. Er beruht auf dem fehlerhaften Gedanken, dass wir Uncle Sams Budget durch dieselbe Brille sehen müssen, durch die wir unser eigenes Familienbudget betrachten. Von allen Mythen, die wir auf den folgenden Seiten behandeln werden, ist dieser hier zweifellos der schädlichste.

      Unter Politikern, die sich beim Kontakt zu ihren Wählern für gewöhnlich der simpelsten Rhetorik bedienen, ist er ein Favorit. Und was könnte einfacher sein, als die Finanzen der Regierung so darzustellen, wie sie uns anderen bereits vertraut sind – wie unsere eigenen. Wir alle wissen, wie wichtig es ist, unsere persönlichen Ausgaben nach unserem Gesamteinkommen zu richten. Wenn also jemand daherkommt und auf eine uns vertraute Art über Staatsfinanzen spricht, dann spricht uns das aus der Seele. Es fühlt sich heimelig an, so, als säße man gemeinsam um den Küchentisch.

      Wir haben es alle miterlebt. Auf Wahlplakaten und Versammlungen in ganz Amerika stellen uns Politiker den Kleinunternehmer oder die schwer arbeitende Kellnerin als leuchtende Vorbilder für verantwortungsvolle Haushaltsführung hin. Mitfühlend sprechen sie von den Bemühungen der Durchschnittsamerikaner und davon, dass wir alle wissen, wie es ist, um den Küchentisch zu sitzen und die Haushaltsabrechnung zu machen. Um im Publikum Empörung auszulösen, lenken sie dann das Gespräch auf die Bundesregierung und erzählen uns, dass Uncle Sams Bücher fast nie stimmen, weil verantwortungslose Ausgaben in Washington, D.C. zur Lebensart geworden sind.

      Solche Geschichten sprechen uns an, weil uns die Sprache so vertraut ist. Wir wissen, dass wir nach unseren Verhältnissen leben und unsere Finanzen so verwalten müssen, dass wir nicht mehr ausgeben, als wir einnehmen. Wir wissen, dass wir für die Zukunft etwas auf die hohe Kante legen und beim Aufnehmen von Darlehen besonders umsichtig sein müssen. Zu hohe Schulden können Bankrott, Zwangsvollstreckung und sogar Gefängnis zur Folge haben.

      Wir wissen, dass man pleite gehen kann, und haben miterlebt, wie so renommierte Firmen wie RadioShack und Toys „R“ Us in den Bankrott getrieben wurden, als sie ihre Rechnungen nicht länger bezahlen konnten. Selbst Städte (Detroit) und Staaten (Kansas) können in große Schwierigkeiten geraten, wenn sie nicht genug einnehmen, um ihre Ausgaben zu finanzieren. Das versteht jede Familie, die gemeinsam am Küchentisch sitzt. Was sie nicht versteht, ist, warum dies bei der Bundesregierung (Uncle Sam) anders ist.

      Um das zu verstehen, begeben wir uns direkt ins Herz der MMT.

      WÄHRUNGSEMITTENTEN UND WÄHRUNGSNUTZER

      Ausgangspunkt der MMT ist eine simple und unbestreitbare Tatsache: unsere nationale Währung, der US-Dollar, kommt von der US-Regierung und kann von nirgendwo sonst herkommen – zumindest nicht auf legalem Weg. Zur Emission des US-Dollar sind sowohl das Finanzamt der Vereinigten Staaten als auch dessen Fiskalagent, die Federal Reserve, ermächtigt. Dazu gehört das Prägen der Münzen in Ihrer Tasche, das Drucken der Geldscheine in Ihrer Brieftasche oder die Schaffung digitaler Dollars, die Reserven genannt werden und nur als elektronische Beträge auf Bankbilanzen existieren. Das Finanzamt produziert die Münzen, und die Federal Reserve stellt den Rest her. Hat man die Bedeutung dieser Tatsache erst einmal begriffen, dann durchschaut man viele der Defizit-Mythen ganz von selbst.

      Obwohl Sie bisher vielleicht nicht viel darüber nachgedacht haben, sind Sie sich dieser grundlegenden Wahrheit im Grunde bereits bewusst. Denken Sie einmal darüber nach. Können Sie US-Dollars herstellen? Sicher, Sie können sie verdienen, aber herstellen? Vielleicht mit einer Hightech-Gravieranlage, die Sie bei sich im Keller aufstellen und damit etwas fabrizieren, das dem US-Dollar stark ähnlich sieht. Oder Sie könnten sich in den Rechner der Federal Reserve hacken und dort digitale Dollars eintippen.