Der Defizit-Mythos. Stephanie Kelton

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Название Der Defizit-Mythos
Автор произведения Stephanie Kelton
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783944203614



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selben Jahr an Zugkraft. Unsere Nation erlebte gerade den schlimmsten Wirtschaftsabschwung seit der Großen Depression. Es fühlte sich tatsächlich so an, als ginge unser Land gerade gemeinsam mit einem großen Teil der restlichen Welt pleite. Was als Störung auf dem Subprime-Hypothekenmarkt begonnen hatte, hatte auf die globalen Finanzmärkte übergegriffen und sich zu einem kompletten wirtschaftlichen Zusammenbruch entwickelt, der Millionen US-Amerikaner um ihre Jobs, ihr Zuhause und ihre Unternehmen brachte.2 Allein in jenem November verloren achthunderttausend Amerikaner ihre Arbeit. Millionen beantragten Arbeitslosengeld, Lebensmittelunterstützung, Medicaid und andere staatliche Beihilfen. Während die Wirtschaft tief in eine Rezession abrutschte, stürzten die Steuereinnahmen in die Tiefe, und die Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung stiegen sprunghaft an und trieben das Defizit auf die Rekordzahl von 779 Milliarden US-Dollar. Panik breitete sich aus.

      Vertreter der MMT, darunter auch ich, sahen dies als Gelegenheit, der neuen Regierung unter Obama mutige politische Vorschläge zu unterbreiten. Wir baten den Kongress eindringlich, ein robustes Konjunkturpaket aus Lohnsteuerbefreiung, zusätzlichen Beihilfen für Staats- und Landesregierungen und einer staatlichen Jobgarantie zu verabschieden.

      Am 16. Januar 2009 hatten Amerikas vier größte Finanzinstitute bereits die Hälfte ihres Wertes verloren, und der Arbeitsmarkt büßte monatlich hunderttausende Stellen ein. Genau wie bei FDR fand Präsident Obamas Vereidigung am 20. Januar zu einem historisch kritischen Zeitpunkt statt. Innerhalb von dreißig Tagen hatte er ein Konjunkturpaket über 787 Milliarden US-Dollar unterzeichnet. Einige seiner engsten Berater hatten auf eine viel höhere Summe gedrungen und behauptet, zur Verhinderung einer langwierigen Rezession seien mindestens 1,3 Billionen US-Dollar nötig. Andere sträubten sich gegen alles, was auf „Billionen“ endete. Schließlich verlor Obama die Nerven.

      Warum? Weil er im Grunde finanzpolitisch konservativ eingestellt war. Er war umgeben von Leuten, die ihm unterschiedliche Zahlen nannten, und entschied sich dafür, kein Risiko einzugehen und am unteren Ende der ihm vorgelegten Zahlen zu bleiben. Christina Romer, die Vorsitzende des Wirtschaftsrats, erkannte, dass sich eine Krise von derartigem Ausmaß nicht mit der eher bescheidenen Maßnahme von 787 Milliarden US-Dollar bewältigen ließ. Sie plädierte für ein ehrgeiziges Paket von über einer Milliarde und sagte, „Mr. President, jetzt wird es ernst. Es ist schlimmer, als wir dachten.“3 Sie hatte alles durchgerechnet und war zu dem Schluss gekommen, dass die Bekämpfung der sich verschärfenden Rezession voraussichtlich ein Paket in Höhe von 1,8 Billionen US-Dollar erforderte. Doch diese Option wurde von Lawrence Summers, Harvard-Ökonom, ehemaliger Finanzminister und Obamas oberster Wirtschaftsberater, zunichte gemacht. Summers wäre ein umfangreicheres Paket vielleicht lieber gewesen, doch fürchtete er, sich mit einem Antrag von einer Billion US-Dollar oder mehr beim Kongress lächerlich zu machen, und sagte, „die Öffentlichkeit würde nichts davon hören wollen, und beim Kongress würde es nie durchgehen.“4 David Axelrod, der später zum leitenden Berater des Präsidenten ernannt wurde, stimmte zu, da er befürchtete, dass jeder Betrag über einer Billion beim Kongress und dem amerikanischen Volk einen „Preisschock“ verursachen würde.

      Die letztlich vom Kongress bewilligten 787 Milliarden US-Dollar beinhalteten Geldmittel für Staats- und Landesregierungen zur Bekämpfung des Abschwungs, Finanzmittel für Infrastrukturen und umweltfreundliche Investitionsprojekte sowie beträchtliche Steuervergünstigungen, um den Konsum und die Reinvestition im privaten Sektor anzukurbeln. All das half, doch reichte es bei weitem nicht aus. Die Wirtschaft schrumpfte, und während das Defizit auf über 1,4 Billionen US-Dollar kletterte, musste sich Präsident Obama Fragen zur steigenden Flut roter Zahlen stellen. Am 23. Mai 2009 wurde er auf C-SPAN interviewt. Der Moderator, Steve Scully, fragte, „Wann wird uns das Geld ausgehen?“5 Der Präsident erwiderte, „Nun ja, uns ist das Geld bereits ausgegangen.“ Da war es also. Der Präsident hatte gerade bestätigt, was der Fahrer mit dem Uncle-Sam-Sticker die ganze Zeit vermutet hatte. Die Vereinigten Staaten waren pleite.

      Die Große Rezession, die von Dezember 2007 bis Juni 2009 dauerte, hinterließ überall in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus bleibende Narben in Gemeinschaften und Familien. Es dauerte über sechs Jahre, bis der US-amerikanische Arbeitsmarkt alle 8,7 Millionen Jobs, die von Dezember 2007 bis Anfang 2010 verlorengingen, zurückgewann.6 Millionen Menschen hatten ein Jahr oder länger zu kämpfen, bis sie Arbeit fanden. Vielen gelang es überhaupt nicht. Und einige, die das Glück hatten, eine Stelle zu finden, mussten sich oft mit Teilzeitjobs begnügen oder wesentlich schlechter bezahlte Arbeit annehmen. In der Zwischenzeit verschlang die Zwangsvollstreckungskrise 8 Billionen an Immobilienvermögen, und geschätzte 6,3 Millionen Menschen – darunter 2,1 Millionen Kinder – wurden zwischen 2007 und 2009 in die Armut gedrängt.7

      Der Kongress hätte mehr tun können und müssen, doch der Defizit-Mythos hatte sich durchgesetzt. Im Januar 2010, als die Arbeitslosigkeit schwindelerregende 9,8 Prozent erreicht hatte, strebte Präsident Obama bereits in die entgegengesetzte Richtung. In jenem Monat verpflichtete er sich bei seiner Ansprache zur Lage der Nation zu einer Umkehrung des Konjunkturprogramms und ließ das Land wissen, „Familien im ganzen Land schnallen den Gürtel enger und treffen schwere Entscheidungen. Die Bundesregierung sollte es genauso machen.“ Was folgte, war langanhaltender selbst zugefügter Schaden.

      Schätzungen der Federal Reserve Bank of San Francisco (FRBSF) zufolge haben die Finanzkrise und das kraftlose Wachstum die US-Wirtschaft zwischen 2008 und 2018 um bis zu 7 Prozent ihres Output-Potenzials gebracht. Stellen sie sich darunter eine Aufstellung aller Güter und Dienstleistungen (und Einnahmen) vor, die wir in diesen zehn Jahren produziert haben könnten, dies jedoch nicht taten, da wir unsere Wirtschaft nicht ausreichend unterstützten, indem wir Stellen sicherten und den Menschen das Dach über dem Kopf erhielten. Durch falsche politische Reaktionen haben wir die Weichen für eine langsame und schwache Erholung gestellt, die unsere Gemeinschaften geschädigt und unserer Wirtschaft Vermögensverluste in Billionenhöhe zugefügt hat. Der FRBSF zufolge haben die zehn Jahre unterdurchschnittlichen Wirtschaftswachstums jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in Amerika umgerechnet 70.000 US-Dollar gekostet.

      Warum haben wir keine bessere Politik betrieben? Vielleicht denken Sie, es läge daran, dass unser Zweiparteiensystem so gespalten ist, dass der Kongress schlicht handlungsunfähig war, selbst angesichts einer nationalen Katastrophe, die Durchschnittsbürger und große Unternehmen gleichermaßen in ihrer Sicherheit bedrohte. Und daran ist sicher einiges wahr. 2010 brüstete sich der Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, öffentlich, „unser oberstes Ziel ist, dass Präsident Obama nicht wiedergewählt wird.“ Doch Parteipolitik war nicht das einzige Hindernis. Die Politik der Defizit-Hysterie, an der beide Seiten seit Jahrzehnten festhalten, stellte ein noch größeres Hemmnis dar.

      Höhere Defizite hätten eine schnellere und kräftigere Erholung ermöglicht, Millionen Familien geschützt und wirtschaftliche Schäden in Billionenhöhe verhindert. Doch keiner der Entscheidungsträger setzte sich für höhere Defizite ein. Weder Präsident Obama noch die meisten seiner leitenden Berater, nicht einmal die progressivsten Mitglieder des Abgeordnetenhauses und des Senats. Warum? Glaubten wirklich alle, dass dem Staat das Geld ausgegangen war? Oder hatten sie nur Angst, die Wähler gegen sich aufzubringen, wie den mit dem Autoaufkleber auf dem Mercedes?

      Wir können Defizite nicht zur Lösung von Problemen benutzen, wenn wir das Defizit selbst weiterhin als Problem betrachten. Aktuell ist etwa die Hälfte der Amerikaner (48 Prozent) der Meinung, dass der Abbau der staatlichen Budgetdefizite für den Präsidenten und den Kongress oberste Priorität haben sollte. Dieses Buch möchte mehr Menschen davon überzeugen, dass das Defizitproblem eher bei null liegt. Das wird nicht einfach werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir mit den Mythen und Missverständnissen, die unseren öffentlichen Diskurs prägen, gründlich aufräumen.

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      DIE ERSTEN SECHS Kapitel des Buches entkräften die Defizit-Mythen, die uns als Land lähmen. Als erstes widerlege ich die Vorstellung, dass die Bundesregierung wie ein Haushalt budgetieren sollte. Wahrscheinlich ist kein anderer Mythos so schädlich wie dieser. In Wahrheit ähnelt die Bundesregierung in keiner Weise einem Haushalt oder einem privaten Unternehmen. Das liegt daran, dass Uncle Sam etwas hat, das wir anderen