Der Defizit-Mythos. Stephanie Kelton

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Название Der Defizit-Mythos
Автор произведения Stephanie Kelton
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783944203614



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einnimmt, dann sagen wir, dass die Regierung ein Steuerdefizit hat. Dieses Defizit erhöht das Angebot an „grünen Dollars“. Mehr als hundert Jahre lang hat die Regierung US-Staatsanleihen entsprechend der Höhe ihrer Staatsausgaben verkauft. Wenn die Regierung also 5 Billionen US-Dollar ausgibt, aber nur 4 Billionen Dollar an Steuern einnimmt, verkauft sie Staatsanleihen im Wert von 1 Billion Dollar. Was wir staatliche Kreditaufnahme nennen, ist nur Uncle Sam, der es den Menschen gestattet, grüne Dollars in verzinsliche gelbe Dollars zu verwandeln.

      Die MMT zeigt, warum es falsch ist, die staatliche Kreditaufnahme durch die Haushalts-Brille zu betrachten. Wenn Sie und ich ein Darlehen aufnehmen, um ein Heim oder ein Auto zu kaufen, gehen wir nicht in eine Bank, überreichen der Sachbearbeiterin einen Stapel Geld und bitten dann darum, uns dieses Geld für den Kauf eines Hauses oder eines Autos leihen zu dürfen. Der Grund, warum wir uns das Geld leihen, ist, dass wir es nicht haben. Anders als ein Haushalt tätigt die Regierung zuerst Ausgaben und stellt so die Dollars zur Verfügung, die dann für den Kauf von Staatsanleihen verwendet werden können. Wie wir in Kapitel 3 sehen werden, tut sie das, um die Zinsraten zu stützen, und nicht, um Ausgaben zu finanzieren.

      INNERHALB DER GRENZEN BLEIBEN

      Wenn Sie den Unterschied zwischen dem Währungsemittenten und einem Währungsnutzer erst einmal verinnerlicht haben, werden Sie durch eine neue Brille hindurch allmählich erkennen, warum unser politischer Diskurs weitgehend kaputt ist. Von den Zwängen der Goldstandard-Welt befreit, sind die Vereinigten Staaten nun so flexibel, dass sie ihr Budget nicht wie einen Haushalt gestalten müssen, sondern es ganz in den Dienst ihrer Bevölkerung stellen können.

      Um das zu erreichen, müssen wir uns von Thatchers Diktum befreien. Es bedeutet, dass wir uns des Mythos entledigen müssen, demzufolge die Regierung kein eigenes Geld besitzt, dass sie das benötigte Geld letztlich von uns, dem Steuerzahler, bekommen muss. Die MMT zeigt, dass es sich genau andersherum verhält. Rein finanziell gesehen kann es sich unsere Regierung leisten, alles zu kaufen, was in ihrer eigenen Währung erhältlich ist. Ihr kann niemals „das Geld ausgehen“, wie Präsident Obama einst behauptete.

      Heißt das, dass es keine Grenzen gibt? Können wir uns den Wohlstand einfach herbeidrucken? Auf keinen Fall! Die MMT ist kein Gratisbuffet. Es gibt sehr reale Grenzen, und das Nichterkennen – und die Nichtbeachtung – dieser Grenzen kann großen Schaden verursachen. Bei der MMT geht es darum, die realen Grenzen von den selbst auferlegten Zwängen, gegen die wir durchaus etwas tun können, zu unterscheiden.

      Es mag so aussehen, als würde der Kongress bereits uneingeschränkt Geld ausgeben. Die Vereinigten Staaten werden voraussichtlich Defizite in Billionenhöhe haben, und die öffentlichen Schulden haben beste Aussichten, von 16 Billionen US-Dollar im Jahr 2019 auf 28 Billionen US-Dollar im Jahr 2029 zu steigen. In vieler Hinsicht scheint es, als könne den Kongress nichts aufhalten. Technisch jedoch schon.

      Der Kongress hat eine Reihe technischer Verfahren und Haushaltsvereinbarungen verabschiedet, die neue Bundesausgaben verlangsamen oder verhindern sollen. Sehen wir uns ein paar davon an. Als erstes gibt es, wie zuvor angemerkt, PAYGO, eine Vorschrift, die aktuell im Abgeordnetenhaus zum Einsatz kommt. PAYGO ist eine selbst auferlegte Bestimmung, die den Gesetzgebern die Bewilligung neuer Ausgaben erschwert. Angenommen, es sollen mehr Dollars in die Bildung fließen, dann werden für die Finanzierung dieses Ziels nicht nur mehr Stimmen gebraucht, sondern es muss auch der mit dem Gesetz verbundenen Steuererhöhung oder Ausgabenkürzung zugestimmt werden, die „dafür bezahlen“ soll. Unter PAYGO ist die Erhöhung des Defizits keine Option. Die Vorschrift soll den Kongress dazu zwingen, wie ein Haushalt zu budgetieren. Eine weitere selbst auferlegte Beschränkung, die Byrd-Regel, gilt im Senat. Unter der Byrd-Regel können Defizite steigen, dürfen jedoch das zehnjährige Haushaltsfenster nicht übersteigen. Drittens müssen sowohl das Abgeordnetenhaus als auch der Senat bei Behörden wie dem Congressional Budget Office oder dem Joint Committee on Taxation eine Budgetbewertung beantragen, bevor die Gesetzgeber überhaupt zu wichtigeren Gesetzen abstimmen können. Eine schlechte Bewertung durch eine dieser Behörden kann einen Gesetzesentwurf buchstäblich zum Stillstand bringen. Als letztes ist dem Kongress eine Schuldenobergrenze auferlegt, die dem zulässigen Gesamtbetrag der Staatsschulden ein gesetzliches Limit setzt.

      Da all diese Beschränkungen vom Kongress auferlegt wurden, kann er sie auch alle wieder zurücknehmen oder aufheben.23 Anders gesagt, sie sind nur verpflichtend, wenn der Kongress dies möchte. Der Kongress kann die Regeln ändern und tut dies auch oft. Beispielsweise hoben die Republikaner im Abgeordnetenhaus die PAYGO-Regel 2017 flugs auf, um ihre Steuerreform zu verabschieden. Um ihre Version des Gesetzes zu verabschieden, mussten die Republikaner im Senat um die Byrd-Regel herumkommen. Dafür gingen sie von einem äußerst optimistischen Wirtschaftswachstum aus24 und legten das Ende der Einkommenssteuersenkungen für 2025 fest. All diese Manöver zusammengenommen ermöglichten es den Republikanern, sich um die Byrd-Regel herumzumogeln, indem sie „Beweise“ lieferten, dass die Steuersenkungen das Defizit außerhalb des zehnjährigen Haushaltsfensters nicht erhöhen würden. Und natürlich wurden wir alle Zeugen der wiederholten Dramen um die Verschuldungsgrenze. Theoretisch ist diese Grenze, die 1917 zum ersten Mal verfügt wurde, genau dazu da – um die Höhe der Staatsverschuldung zu begrenzen. In der Praxis haben die Gesetzgeber jede bevorstehende Verschuldungsgrenze zunehmend als politische Chance gesehen, um sich wichtig zu machen oder gesetzgeberische Zugeständnisse herauszuholen. Doch letzten Endes bringt der Kongress stets den Willen auf, eine Nichterfüllung durch Anheben der Grenze zu vermeiden. Seit der Einführung der Grenze hat er das etwa einhundert Mal getan.

      Wenn sich der Kongress so oft selbst befreit, was sollen all diese nicht verpflichtenden Beschränkungen dann bezwecken? Warum schaffen wir PAYGO, die Byrd-Regel, die Verschuldungsgrenze und andere selbst auferlegte Kontrollmechanismen für Staatsausgaben nicht ab? Warum hören wir nicht auf, so zu tun, als müsste der Kongress wie ein Haushalt budgetieren? Die Wahrheit ist, dass die selbst auferlegten Beschränkungen für viele Gesetzgeber einen politischen Nutzen haben.

      Zunächst einmal stehen Kongressmitglieder gewöhnlich unter Druck seitens der Wähler, die eine großzügigere Finanzierung von Gesundheitsversorgung, Bildung und so weiter verlangen. Die Haushaltsregeln bieten ihnen politischen Schutz. Anstatt erklären zu müssen, dass ihnen die Erhöhung von Pell-Grant-Stipendien, die finanzschwachen Studenten ein Studium ermöglichen, widerstrebt, können die Politiker ihren Wählern Empathie vorheucheln und gleichzeitig betonen, dass ihnen ja aufgrund des Defizits die Hände gebunden sind. Welche Ausrede hätten sie denn sonst für die Verweigerung von Unterstützung, wenn sie sich nicht hinter dem Defizit-Mythos verstecken könnten? Da ist es praktisch, wenn man einen Bösewicht hat.

      Andere Kongressmitglieder suchen in den selbst auferlegten Beschränkungen politische Chancen. Aus den sprichwörtlichen Zitronen wollen sie Limonade machen. Anstatt sich für die Aufhebung der Beschränkungen einzusetzen, finden sie Wege, um ihre Ausgabenziele mit anderen politischen Zielen zu vereinen. Beispielsweise könnte ein progressiver Demokrat die PAYGO unterstützen, indem er eine Reihe neuer Steuern fordert, durch die die Reichen neue Hilfsprogramme für Familien mit niedrigem und mittlerem Einkommen „bezahlen“ sollen. Robin Hood war schließlich beim ganzen Volk beliebt.

      UNSERE REALEN GRENZEN

      Der Blick durch die MMT-Brille zeigt, dass die US-Regierung nichts mit einem Haushalt oder einem privaten Unternehmen gemeinsam hat. Der Hauptunterschied ist klar und unvermeidlich. Die Regierung emittiert die Währung (den US-Dollar), und alle anderen – Haushalte, private Unternehmen, Bundesstaaten, Kommunen und Ausländer – nutzen sie lediglich. Dadurch ist Uncle Sam uns allen mächtig überlegen. Uncle Sam muss sich nicht erst Dollars beschaffen, bevor er sie ausgeben kann. Wir anderen schon. Uncle Sam kann nicht vor einem wachsenden Schuldenberg stehen, den er nicht bezahlen kann. Wir anderen schon. Uncle Sam wird nie pleite gehen. Wir anderen unter Umständen schon.

      Warum sagen wir also dem Kongress nicht, er soll einfach weiter Geld ausgeben, bis all unsere Probleme gelöst sind? Ja, wenn das nur so leicht wäre. Die Inflation, um die es in unserem nächsten Kapitel geht, ist eine