Der Mann, der aus dem Fenster sprang. Ludwig Lugmeier

Читать онлайн.
Название Der Mann, der aus dem Fenster sprang
Автор произведения Ludwig Lugmeier
Жанр Зарубежная психология
Серия
Издательство Зарубежная психология
Год выпуска 0
isbn 9783956140167



Скачать книгу

ich den Weltatlas vom Willi mitgenommen. Den hab ich einem Bauern gegeben für 10 Pfund Erdäpfel. Da sind die Züge voll gewesen und man hat sich außen ranhängen müssen, weil drin kein Platz mehr war. Und aus den Erdäpfeln haben wir Erdäpfelsalat gemacht. Und der Onkel Willi hat die Sau geklaut. Aber dein Vater hat Schiß gekriegt und sich verdrückt, als er Schmiere stehen sollte. Wenn der Bauer was gemerkt hätte …«

      Sie mochte meinen Vater nicht. Deswegen kam sie am Wochenende nicht. Wenn am Abend seine Adler über die Brücke knatterte, nahm sie die Milchkanne und ging. Durchs Fenster sah ich, wie sie über die Brücke trippelte.

      »War sie wieder hier, die Hexe?« fragte er.

      Er trug eine blaue Arbeitshose, Gummistiefel und hatte eine Glatze. Er hinkte den Gang entlang, setzte sich in der Wohnküche auf das Sofa und streckte die Beine aus. Meine Mutter stellte sich vor ihn und zog ihm die Stiefel aus. So brauchte er keinen Stiefelknecht. Dann brachte sie ihm die Hausschuhe und rührte weiter im Kochtopf.

      »Sie sammelt halt Altmaterial«, sagte meine Mutter, »hinten in Altjoch. Sie hat nur 58 Mark Rente. Das Brot ist teurer geworden. Das kostet jetzt schon 38 Pfennig. Ich kaufe wieder Sanella statt Rama. Die schmeckt genauso gut, bloß schmiert sie sich zäher.«

      Später kam Gusti mit dem Fahrrad aus der Firma Dorst. Ich hörte, wie die Kette am Schutzblech scheuerte, wenn er über die Brücke fuhr. Er war dürr, seine Hände dreckig von Schmiere und wenn er das Rad in den Stall stellte, riefen die Jugendlichen, die auf dem Brückengeländer saßen: »Moses, wo bist du?« Er weichte die Hände in der Emailleschüssel ein und wusch sie mit Sandpaste und Wurzelbürste.

      »Zwei Juden wollten stehln nen Appel«, sagte er, »doch es ging nicht, der Baum war ne Pappel.«

      Er stellte das Radio ein und wartete auf das Lied vom alten Haus von Rocky Docky.

      »Das alte Haus von Rocky Docky hat vieles schon erlebt, kein Wunder, daß es zittert, kein Wunder, daß es …«

      »Zwei Juden schwammen durch den Nil, den einen fraß ein Krokodil, den anderen vergaß es«, sagte er und manschte das Essen zu einem Brei zusammen, den er mit dem Löffel in den Mund schaufelte. Danach ging er in den Hof und von der Brücke riefen sie: »Moses kommt!«

      »Gusti soll richtig essen«, sagte mein Vater.

      »Das hat er in der Tschechei nicht anders gelernt«, erwiderte meine Mutter.

      »Wir sind hier nicht in der Tschechei.«

      Über dem Tisch brannte eine 60-Watt-Birne. Das Licht war gelb und ich schaute zu, wie meine Mutter meinen kleinen Bruder in der Blechwanne badete. Er plärrte, wenn ihm Kernseife in die Augen kam. Dann trug sie ihn über den langen Gang ins Bett. Mein Vater griff sich einen Knüppel, stellte sich an die Tür und schaute, ob Unenkel den Gang entlang kam.

      »Wenn ich ihn an der Schlafzimmertür erwische«, sagte er, »schlag ich ihn tot.«

      Dann zeigte er mir, wie man richtig mit Messer und Gabel ißt. Er setzte sich kerzengerade auf den Stuhl, klemmte sich zwei Bücher unter die Achseln und schnitt die Luft im Teller. Mit der Gabel führte er einen Bissen Luft in den Mund und kaute ihn.

      »Jetzt bist du noch zu klein«, sagte er, »aber wenn der Ernst des Lebens beginnt …«

      Er nahm Papier und Stifte aus der Tischschublade und zeichnete einen Apfel mit Augen und Mund. Der Mund hatte einen Zahn und der war schwarz. Da sah der Apfel aus wie Frau Hase, denn die hatte auch einen schwarzen Zahn. Dann zeichnete er einen Hackstock, in dem eine Axt steckte. Der Hackstock hatte eine Nase, Augen und ein schmales Maul. Das Maul streckte eine Zunge raus. »Das ist der Unenkel«, sagte er.

      Ich saß auf seinem Schoß und malte die Zunge rot an und die Augen gelb. Die Axt malte ich auch rot an, damit sie blutig war. Der Stift roch nach Lack. Die rote Mine klebte ein wenig, als ich sie mit der Zunge anfeuchtete. Mein Vater roch nach Kernseife, Glatze und Niveacreme. Um den Leib trug er einen braunen Gürtel, den er einem Russen weggenommen hatte. Ich fühlte mich so stark, als hätte ich Unenkel selbst den Schädel gespalten. Dann setzte mich mein Vater ab, weil es fünf vor sieben war und im Radio das Betthupferl kam. Wenn mich meine Mutter ins Schlafzimmer brachte, schlief mein kleiner Bruder schon. Im Hof spielten noch Kinder. Ich hörte ihre Stimmen. Sie wurden immer leiser. Dann war es still. Unter der Zimmerdecke verlief ein grüner Strich, der das Muster der mit einer Gummiwalze aufgetragenen Tapete abschloß. An der Wand hingen die Aquarellbilder meines Vaters. Hinter Zäunen lagen Wiesen und darüber hingen Wolken. Sie sahen aus wie Kühe, nur hatten sie viel zu lange Hälse und viel zu dicke Bäuche. Wenn die Nacht ins Zimmer sickerte, wurden sie zu Ungeheuern, die in die Dunkelheit schwammen.

      Mein Bruder war zweieinhalb Jahre jünger als ich, hieß Berndi und hatte rote Haare. Sein Gesicht war voll Sommersprossen, aber dafür konnte er nichts. »Das kommt davon, weil die Vorfahren Kelten waren«, sagte mein Vater. Meine Mutter kaufte vom gesparten Geld in der Apotheke Schwanenweiß und schmierte ihm die Creme ins Gesicht. Dann sah er aus wie ein Clown und brüllte. Er brüllte, weil er weiß war und weil er zweieinhalb Jahre jünger war und weil er auf dem roten Dreirad vorne sitzen und lenken wollte, so wie ich. Er brüllte, bis ihm die Luft ausging, und ich klammerte mich an der Lenkstange fest. Dann spannte meine Mutter einen Strick an die Lenkstange und zog an.

      Sie zog uns über die Brücke, weiter zum See und am See entlang nach Kochel, an der Firma Dorst vorbei, wo mein Vater und Gusti arbeiteten. Auf ihrem Rücken hüpfte ein Militärrucksack und die Pedale des Dreirads drehten leer. Wenn sie uns den Finkberg hochzog, keuchte sie und wurde langsamer. Da schob ich sie in Gedanken an, aber auf halber Höhe blieb sie trotzdem stehen.

      »Schaut den See an«, schnaubte sie.

      Er lag unter uns, eine bleierne Fläche, zu der eine Steintreppe führte. Dann kamen das schmiedeeiserne Tor, das in den Park des Freiherrn von Fink führte, und die ersten Häuser der Ortschaft. Kochel war grau. Auf einem steinernen Podest stand der Schmied mit dem Morgenstern und im Konsum lagen unter einem Glassturz Bienenstiche.

      »Zwei Stück«, sagte meine Mutter und redete laut. »Was meinen Sie, was es bei den Zislows zum Abendessen gibt? Zwei Bücklinge und Brot. Er kriegt einen ganzen, sie einen halben, der Peter, der kriegt einen viertel Bückling und die zwei Mädchen einen achtel eine jede. Zwei Bücklinge für fünf Personen!«

      »Aber er einen ganzen«, sagte die Verkäuferin empört.

      Sie war dick und alt und lief hinter der Theke auf und ab. Die Haare auf ihrem Kopf waren dünn und ich hatte Angst, sie würde hervorkommen und mir ein Zitronenbonbon in den Mund stecken. Dann hätte ich das Bonbon zerbissen und geschluckt oder in die Backe geschoben. Meine Mutter packte den Wocheneinkauf in den Rucksack. Dann gingen wir zur Molkerei hinter dem Pferdeschmied. Dort war alles weiß. Die Milchglastür, die Milch, die Porzellanbehälter. Die Molkereibesitzerin sah aus wie Frau Holle. Sie hatte weiße Haare und trug eine weiße Schürze. Braun war nur der Kakao, der in Flaschen abgefüllt dastand. Wir tranken ihn zu den Bienenstichen.

      Immer wenn wir nach Kochel gingen, fieberte ich auf das Kinoplakat am schwarzen Brett des Heimatkinos. Zwischen dem Grau der Häuser leuchtete es rot.

      »Das ist die Hildegard Knef«, sagte meine Mutter. »Die hat allen Leuten ihren nackten Arsch gezeigt.«

      Die Frauen hatten rote Lippen und die Männer trugen Augenklappen und hielten Pistolen in den Händen. Hinter jedem Gesicht steckte ein Geheimnis. Ich hätte das Plakat gerne abgerissen. Darunter wären die wahren Gestalten hervorgekommen. Aber vor dem Plakat befand sich eine Glasscheibe. Wenn ich sie eingeschlagen hätte, wäre der Schmied von Kochel vom Steinpodest und über die schmiedeeiserne Kette gestiegen. Ich wartete und rührte mich nicht.

      »Komm weiter«, sagte meine Mutter.

      Der Pirat würde sich auf das Schiff schwingen. Er hatte ein rotes Tuch um den Kopf und aus einem Kanonenrohr schoß Feuer.

      »Wir müssen weiter«, rief sie, »komm!«

      Und die Kanonenkugel würde das andere Schiff zerschießen und das Schiff würde untergehen und unter Wasser liegenbleiben wie das Schiff vom Hannemann.

      »Das