Der Mann, der aus dem Fenster sprang. Ludwig Lugmeier

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Название Der Mann, der aus dem Fenster sprang
Автор произведения Ludwig Lugmeier
Жанр Зарубежная психология
Серия
Издательство Зарубежная психология
Год выпуска 0
isbn 9783956140167



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das ist, sagst eine Bratkartoffel.«

      Dann schlug sie ihr die Karten. Zuletzt lag die Dame neben dem König.

      »Na, was sagst jetzt, du blöde Gans?«

      Da wischte sich das Fräulein Rosemarie den Rotz von der Nase und lachte.

      Am Ende des obersten Gangs waren die Toilette und der gußeiserne Ausguß. Mieter standen davor und traten von einem Bein aufs andere. Der Blechlampenschirm darüber sah aus wie ein Chinesenhut. In der Wohnküche bügelte meine Mutter Wäsche. Es roch nach Kampfer. Mein Bruder hockte unterm Tisch, durch das Stragula zeichneten sich die Stöße der Dielen ab, das Fenster war mit Dampf beschlagen. Sie zeichnete ein Gesicht hinein.

      »Punkt Punkt Komma Strich«, sagte sie, »rundherum das Angesicht, links und rechts zwei Ohren, so ist der Mensch geboren.«

      Kaum war sie fertig, fing das Gesicht an zu weinen.

      »Das ist kein Grund zum Flennen«, sagte sie und legte die Karten auf den Tisch.

      Meine Mutter spuckte auf das Bügeleisen und es zischte, als wäre es lebendig. Im Radio spielte Tanzmusik. Ich spähte durch die Löcher der Bakelitabdeckung, aber statt kleiner Musikanten sah ich nur Drähte und Lämpchen. Für mich reichten fünf Karten. Der König und eine Dame, ein Bube und der Tod. Die Sieben war ich. Meine Großmutter schob den Tod nach links und nach rechts. Da war der König obenauf und die Dame unten. Aber der Tod mit seinem Knochenschädel war mal hier und mal da.

      »Der wird dir im Nacken sitzen«, sagte sie. »Da hockt er und wartet. Aber jetzt, jetzt ist er, hoppla, vorbeigerannt!«

      Hoppla! Ich lief die Treppe hinunter. Sollte er mich doch kriegen, der Tod, sollte er doch! Ich rannte über den Hof, zwischen den Kastanienbäumen hindurch, über die Wiese, an den Zaun und zurück. Ich stellte mir vor, wie er mir hinterherlief. Aber als er mit der Sense ausholte, schlug ich einen Haken und da rannte er weiter, schimpfte und ärgerte sich. Ich freute mich und lachte, weil der Tod so blöd ist.

      Da waren die Mahagonibetten im Schlafzimmer, die mit Balken abgestützten Balkone, die Einschüsse eines Maschinengewehrs und hinter der Scheune eine zerfetzte Flak. Ich stand am Bach und über die Kieselsteine floß Wasser. Und wieder war da meine Großmutter mit der klappernden Milchkanne. Manchmal ging sie mit mir nach Altjoch. Dann rannte ich ein Stück voraus und suchte Kippen. Wenn ich eine fand, freute ich mich und brachte sie ihr. Sie legte sie in ihre Messingdose und sagte, die ist aber lang, und ich rannte wieder los.

      Es war kalt dort hinten. Die Berge warfen Schatten. Auch im Sommer stand die Sonne nur ein paar Stunden zwischen Jochberg und Herzogstand. Dann kroch wieder die Kälte aus den Felsen. In die Amibaracken waren Flüchtlinge eingezogen. Auf Leinen flatterte Wäsche und an einem Strick graste eine Geiß. Dahinter ragten senkrecht die Felsen auf. Die Kinder hatten Pullover an und lauerten im Gestrüpp vor einer Höhle. Sie warfen mit Steinen und meine Großmutter drohte ihnen mit einem Stock. Den nahm sie mit, wenn wir ins Altjoch gingen, denn manchmal stand ein weißer Hund auf der Straße, bellte und fletschte die Zähne. Aber sie ging mit dem Stock auf ihn zu und verjagte ihn. Dann stieg sie die Straßenböschung hinunter und stocherte in einem Drainagerohr. Tief drinnen quietschte es.

      »Das ist der Teufel«, sagte sie. »Der holt die Bangerten aus den Baracken.«

      »Und den Hund?«

      »Den kann er nicht holen.«

      »Warum nicht?«

      »Der Hund ist stärker als der Teufel. Der kriegt jeden. Aber ich bin ihm ausgekommen. Soll er nur kommen«, sagte sie und drohte mit dem Stock.

      Ich spähte in die Röhre. Der Zugang zur Hölle war dunkel, aber die Augen des Teufels glitzerten wie Wassertropfen.

      Ich lief an kleinen Häusern vorbei. Dann surrten die Turbinen des Walchenseekraftwerks. Die sechs Rohre kamen aus dem Walchensee, der über dem Kochelsee liegt. Sie waren aus Kupfer und dick. Eine Brücke mit einer steinernen Brüstung führte über sie hinweg. Auf dem Gelände dahinter wuchs Brombeergestrüpp. In einer Mulde lag Abfall. Meine Großmutter zerrte Kupferdrähte aus dem Müll, machte ein Feuer, brannte die Isolierung ab und knäulte die Drähte zusammen. Ich suchte Kreuzotterhäute und band sie mir um die Handgelenke. Dann gingen wir zum See.

      »Für Kupferdrähte zahlt der Alteisenhändler am meisten«, sagte sie. »Für Messing zahlt er nicht so viel. Für Blei und Aluminium auch nicht. Und für Eisen am wenigsten.«

      Sie dröselte die Kippen auf und zerrieb den Tabak.

      »Der Tod«, sagte sie, »ist ein weißer Hund. Einmal hat mich einer gebissen, so wie der von den Baracken. Da hab ich Wundstarrkrampf gekriegt und mich nicht mehr rühren können. Alle haben gedacht, ich bin tot, und der Totengräber hat die Schaufel aus dem Schuppen geholt. Aber ich hab alles gehört und wie sie mich holen wollten, bin ich aus dem Bett gesprungen.«

      Am See schien die Sonne. Die Großmutter schlief ein und schnarchte. Dann schreckte sie hoch und erzählte von ihrer Mutter, die meine Urgroßmutter war. Ich kannte alle Geschichten, aber ich wollte sie immer wieder hören, denn wenn ich nicht aufpaßte, gingen sie einmal so und dann wieder anders.

      »Meine Mutter hat Klavier gespielt.«

      »Geige«, sagte ich.

      »Ja, Geige auch. Aber meistens hat sie Klavier gespielt. Mozart und Drei Chinesen mit dem Kontrabaß. Jedenfalls ist sie vornehm gewesen. Aber wie sie von Vaduz nach Vorarlberg Zigarren geschmuggelt hat, ist sie in eine Schlucht gestürzt und hat sich ein Bein gebrochen. Das Bein hat den Brand gekriegt und daran ist sie gestorben. Manchmal ist sie noch herumgegangen in der Mokri. Dort ist eine Schokoladenfabrik gewesen und da hat es gut nach Schokolade gerochen. Und einmal hat sie vor einem Hutgeschäft gestanden. Wie ich das gehört hab, hab ich in der Hutschachtel nachgeschaut und da waren tausend Kronen drin. So hat sie mir das sagen wollen. Und von dem Geld hab ich Krepp-Papier gekauft und aus dem Papier haben deine Mutter und Willi Papierblumen gemacht. Die haben wie echt ausgesehen und waren so schön, daß die Leute sich gewundert haben. Und gerochen haben sie auch. Wie echte Blumen. Dann bin ich nach Wien gezogen und hab von dem Geld ein Beisl aufgemacht und mir einen Mann genommen. Lang hat der geheißen und gesoffen wie ein Loch. Aber er war Erfinder und hat mit Buchstaben rechnen können. Aber erfinden hat er nur was können, wenn er besoffen war. Darum ist ihm gar nichts anderes übrig geblieben als Saufen. Die Erfindungen haben alle auf dem Papier angefangen. Erst hat er die Seite mit Buchstaben vollgeschrieben. Dann hat er damit gerechnet und zuletzt ist eine Erfindung herausgekommen. Wenn er nüchtern war, hat er selbst nicht mehr gewußt, wie er das gemacht hat. So hat er das Perpetuum mobile erfunden. Schau, hat er gerufen, jetzt hab ich das Perpetuum mobile erfunden. Er hätte ein Heidengeld damit verdienen können. Ein Amerikaner hat dafür eine Million Dollar geboten. Aber dann wollte er noch was verbessern und da ging’s nicht mehr. Da hat er aus Verzweiflung schon zum Frühstück Schnaps getrunken. Der hat ihn verbrannt, von innen raus. Wie er tot war, ist ein Brandfleck in der Hose gewesen. Der Schnaps ist ein Fluch. Der Wein ist gesund. Aber der Schnaps … Wenn die Männer Wein getrunken haben, haben sie gesungen.«

      »Was haben sie gesungen?«

      »Wo ein grüns Kranzerl winkt oder Mein Hut der hat drei Löcher.«

      Ihre Stimme krächzte, wenn sie sang. Wenn sie fertig war, hustete sie, spuckte ins Gras, pfui Teufel!, und rauchte.

      »Wenn du wieder Kippen hast, sing ich wieder. Beim Schnaps war der Teufel am Tisch. Der hat dabeigehockt und gestochert, bis die Männer sich Gläser an die Köpf geschmissen haben. Aber da bin ich aus der Küche, so!, und hab ihnen, so!, eine Hand voll Pfeffer in die Augen. Aber das Beisl war vornehm. Die Gäste sind von überall gekommen, haben Schnitzel und Erdäpfelsalat bestellt, fünfzig Portionen am Tag. Und dann sind wir nach Prag. Da gibt es viele Brücken und den Hradschin, und in Prag hat deine Mutter den Müller kennengelernt. Darum hat sie dann Müller geheißen und nicht mehr Havlitschek, weil vom Müller der Gusti gekommen ist, der darum nur dein halber Bruder ist und sich die Füße nicht wäscht. Aber den Müller haben sie im Krieg erschossen, weil er auf der Wache eingeschlafen ist, und wer auf der Wache eingeschlafen ist, den haben sie erschossen. Wie einen Russ. Wir sind in