Название | Die vielen Namen der Liebe |
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Автор произведения | Kim Thuy |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956141799 |
Mein Vorname, Bảo Vi, kündet von der Absicht meiner Eltern, »die Kleinste zu beschützen«. Wörtlich übersetzt, heiße ich »winzige Kostbarkeit«. Wie den meisten Vietnamesen gelang es mir nie, meinem Namen gerecht zu werden. Mädchen, die »Weiß« (Bach) oder »Schnee« (Tuyết) heißen, haben oft sehr dunkle Haut, Jungen mit dem Namen »Macht« (Hùng) oder »Stark« (Mạnh) fürchten sich vor großen Prüfungen. Ich wiederum wuchs unaufhörlich, bis ich den Durchschnitt bei Weitem überholt hatte, und übertrat mit dem gleichen Elan sämtliche Regeln. Die Lehrer setzten mich in die letzte Bank, um die Klasse besser überblicken zu können. Wenn sie die kleinste falsche Bewegung entdeckten, zitierten sie den Schuldigen augenblicklich zur Tafel, wo er sich unter den Blicken seiner sechzig Mitschüler mit offenen Händen hinstellen musste und mit dem Holzlineal auf die Handflächen oder die Gelenke geschlagen wurde. Danach fiel es ihm unglaublich schwer, die Feder zu halten, die Spitze ins Tintenfass zu tunken und ohne Zittern zu schreiben. Sosehr er sich auch bemühte und mit rosa Löschpapier in der linken Hand die Bewegung der Feder begleitete, um überschüssige Tinte aufzusaugen, gelang es ihm kaum, den Zwei-Millimeter-Linien der Séyès-Hefte zu folgen, ohne darüber hinauszufahren und Flecken auf die Blätter zu machen. So bekam er zu seinen geschwollenen Händen auch noch Punktabzüge wegen seiner Schmiererei. Gemessen an den Leichtsinnigen, die nach hinten versetzt wurden, war ich bestimmt eine Musterschülerin. Oder zumindest zarter, da ich mich nach Kräften bemühte, eine »Vi« zu sein, mikroskopisch klein. Unsichtbar.
Wäre mein Vater am Ende des Krieges ebenso unsichtbar gewesen wie ich, dann wäre er nicht verhaftet und in ein Umerziehungslager in der Gegend von Thủ Đức gesteckt worden, wo er seine tägliche Ration von zehn Erdnüssen mit seinen sechs Hüttenkameraden teilte. Da mein Vater für ein fürstliches Schicksal geboren war, wurde er nach zwei Monaten entlassen. Sein Dienerbruder hatte der Obrigkeit gegenüber erklärt, mein Vater habe seine Spionagetätigkeit für den kommunistischen Widerstand finanziell unterstützt und damit indirekt dem Norden geholfen, den Krieg gegen den Süden zu gewinnen. Indem er ihn so von dem Verdikt befreite, ein kapitalistischer Bürger zu sein, gelang es ihm, meinen Vater zu retten. Ohne das Eingreifen seines Feindbruders hätte mein Vater weiter Kanäle gegraben, Felder entmint und Land gerodet, zusammen mit den anderen Gefangenen, die nicht mehr darauf hofften, den Tag ihrer Befreiung zu erleben. Das Einzige, was sie noch zu hoffen wagten, war, dass eine Heuschrecke oder eine Ratte zum Abendessen vorbeilief, jede andere Überlegung konnte als Verrat am kommunistischen Denken ausgelegt werden. So wurde der Chirurg aus der Nachbarhütte, der ein paar winzige Reisfladen in der Sonne getrocknet hatte, beschuldigt, seine Flucht vorbereitet zu haben, statt sich auf seine Umerziehung zu konzentrieren. Dasselbe passierte einem Buchhalter, als er anderen Gefangenen erzählte, er habe Motorräder an der Nordseite des Gefängnisses vorbeifahren hören. Wenn mein Vater mitbekommen hätte, wie andere Männer auf die Wache zitiert wurden und nicht mehr ins Lager zurückkehrten, hätte er vielleicht beschlossen, aus Vietnam zu fliehen. Und hätte uns nicht alleingelassen auf unserem Weg ins Unbekannte. Dann wäre es ihm vielleicht, wie meiner Mutter, am wichtigsten gewesen, seine Söhne vor dem Militärdienst zu bewahren. So aber zog er sich lieber wieder in den Kokon seines Junggesellenheims zurück, weit weg von den Gezeiten des Lebens.
CATINAT
WIR VERLIESSEN VIETNAM gemeinsam mit Hà, einer engen Freundin meiner Mutter, und deren Eltern.
Hà war sehr viel jünger als meine Mutter. Mit ihren Minikleidern, die ein herzförmiges Muttermal an ihrem linken Oberschenkel entblößten, verkörperte sie Anfang der Siebzigerjahre die moderne, am amerikanischen Lebensstil orientierte Frau in Saigon. Ich erinnere mich an ihre unwiderstehlichen Plateauschuhe im Hauseingang, die mir, wenn ich hineinschlüpfte, ein Gefühl von Dekadenz gaben oder zumindest eine neue Perspektive auf die Welt. Hàs mascaraverkleisterte falsche Wimpern verwandelten ihre Augen in zwei Litschibäume mit buschigem Fell. Sie war unsere Twiggy mit ihrem apfelgrünen oder türkisfarbenen Lidschatten, der sich mit ihrer kupferfarbenen Haut biss. Anders als die meisten jungen Frauen schützte sie sich nicht vor der Sonne, um sich von den Reisbäuerinnen zu unterscheiden, die mit ihren bis über die Knie aufgekrempelten Hosen dem gleißenden Licht ausgesetzt waren, sondern bräunte am Pool des exklusiven Sportklubs, wo sie mir Schwimmen beibrachte. Die amerikanische Freiheit bedeutete ihr mehr als die Eleganz der französischen Kultur und gab ihr auch den Mut, sich am ersten Miss-Vietnam-Wettbewerb zu beteiligen, obwohl sie Englischlehrerin war.
Meine Mutter missbilligte diese Entscheidung, die einer gebildeten jungen Frau aus guter Familie nicht anstand. Dennoch unterstützte sie Hà, indem sie ihr das lange Kleid und den Badeanzug kaufte, die sie auf der Bühne tragen sollte, und sie gerades Gehen auf einer Fuge des Fliesenbodens üben ließ – mit einem Wörterbuch auf dem Kopf, wie im Kino. Sie war wie eine große Schwester zu ihr und schützte sie vor bösen Zungen. Ich durfte mit Hà in die edlen Boutiquen an der Rue de Catinat einkaufen gehen und mit ihren ausländischen Freunden Zitronenlimonade trinken. Stolz wie ein Eroberer spazierte Hà durch diese Straße mit den großen Hotels. Die Stadt gehörte ihr. Ich fragte mich, ob meine Mutter sie um ihre Lässigkeit beneidete, die sie dank der Komplimente, mit denen ihre amerikanischen Professoren und Kollegen sie überschütteten, an den Tag legte. Sie feierten ihre Schönheit mit Schokoladentafeln, Lockenwicklern und Platten von Louis Armstrong, während ihr dunkler Teint unter Vietnamesen als »wild« galt. Meine Großeltern baten meine Mutter des Öfteren, mich aus dem Schwimmunterricht mit Hà zu nehmen. Ich ahne, dass meine Mutter ihnen deshalb nicht gehorchte und Hà in unserer Nähe behielt, weil sie hoffte, ich würde von Hà lernen, schön zu sein. Leider war meine Zeit mit Hà in Vietnam zu kurz. Oder ich lernte zu langsam.
VINH – Siegreich
1954 SPALTETE DER SIEBZEHNTE BREITENGRAD Vietnam in zwei Teile. Der 30. April 1975 markierte eine Grenze zwischen dem Davor und dem Danach, zwischen dem Ende des Krieges und dessen Folgen, zwischen der Macht und der Angst. Davor hörten wir Hàs Lachen, sobald sie den Motor ihres Rollers abgestellt hatte. Fröhlich spielte sie mit den Kindern auf der Straße Himmel und Hölle, neckte den Gärtner damit, wie unwiderstehlich er in seinem fadenscheinigen Hemd aussehe, und fürchtete sich auch nicht, wenn unsere Wachhunde sie anbellten … Danach heiratete Hà einen General aus Vinh, einer Stadt im Norden, die völlig zerbombt, aber noch voller umherirrender Seelen war, darunter die Eltern des Generals, die er nicht wiedergesehen hatte, bis sie unter den Trümmern begraben waren. Ohne diesen General wäre Hàs gesamte Familie in die unbewohnbaren Sumpfgebiete geschickt worden, die sich »Neue Wirtschaftszonen« nannten.
Als Gattin des Generals durfte Hà weiterhin Englisch unterrichten und musste für ihre Monatsration an Zucker, Reis und Fleisch nicht Schlange stehen. Niemand wagte es, abfällige Kommentare über die Frauen zu machen, die eine solche Entscheidung getroffen hatten. Doch die Blicke der anderen verletzten Hà genauso wie die Schläge des Generals, die sie ergeben hinnahm. Ihren Eltern blieben die Geräusche, die ihre Unterwerfung verrieten, nicht erspart, weil sie nur durch einen neu aufgehängten Vorhang von ihnen getrennt war. Um sich nicht wie Tiere auf den General zu stürzen, schwiegen die Eltern. Stellten sich tot. Sie hatten Angst, Hà könnte dem Beispiel ihrer Nachbarin folgen, die sich eine Kugel in den Kopf gejagt hatte, nachdem es ihr gelungen war, ihren Mann aus dem Umerziehungslager zu holen, indem sie sich auf das Zusammenleben mit einem hochrangigen Militär aus dem Norden einließ. Der neue Mann stimmte der Befreiung ihres Mannes und dessen Flucht mit ihren Kindern auf einem Boot zu. Als sie weg waren, drückte sie auf den Abzug, um sich selbst zu befreien.
Meine Mutter umsorgte die neue, ungeschminkte und dunkel gekleidete Hà mit derselben Aufmerksamkeit wie zuvor. Stets hielt sie Watte bereit und eine Tinktur, mit der sie alle Wunden versorgte. Dieser Heilpflanzenauszug in Reisschnaps, behauptete die Familientradition, habe den von Bombensplittern aufgerissenen Hals eines Cousins wieder anheilen lassen und bei einer Nachbarin, die von einer eifersüchtigen Ehefrau mit Säure bespritzt worden war, die Infektion der Verätzungen verhindert, außerdem brächte er blaue Flecken zum Verschwinden, noch bevor die Tränen getrocknet seien.
Hatte Hà vor ihrer Hochzeit mit dem General noch stolz ihre geschminkten Lider gezeigt, so verbarg sie seit dem Beginn ihres Ehelebens ihre blau geschlagenen Augen unter einer breiten Hutkrempe. Ich hatte