Die vielen Namen der Liebe. Kim Thuy

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Название Die vielen Namen der Liebe
Автор произведения Kim Thuy
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956141799



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sie über Jahrzehnte beschrieb. Er erwähnte sie noch lange nachdem ihre welkende Haut die zarten, glatten Finger in ein Wunschbild der Fantasie verwandelt hatte oder allenfalls ein Liebesmärchen.

      BIÊN HÒA

      DIE SCHULE FÜR TRADITIONELLE KUNST in Biên Hòa war auf dem Höhepunkt ihres Ruhms, als meine Großeltern sie besuchten, um die siebte Keramik für ihr siebtes Kind zu kaufen. Sie schwankten zwischen einem blau gesprenkelten Kupferton und einer Seladonglasur, als Großmutter Fruchtwasser verlor. Ein paar Wehen später war mein Vater geboren. Wie ein Wunder empfing mein Großvater vierzehn Tage früher als vorgesehen einen Sohn. Seinen einzigen Sohn.

      Großmutter trug meinen Vater mit ihren Feenfingern auf Händen. Das taten auch seine sechs älteren Schwestern. Und die sechsundzwanzig Ammen und Kinderfrauen, Köchinnen und Dienstmädchen. Nicht zu vergessen die sechshundert Frauen, die sein schön geschnittenes Gesicht, seine breiten Schultern, seine athletischen Beine und sein verführerisches Lächeln anbeteten und ihn mit offenen Armen aufnahmen.

      Er hätte Naturwissenschaften studieren können oder Recht wie seine Schwestern. Doch die Zuneigung der einen und die Liebe der anderen lenkten ihn von den Büchern ab und erstickten jeden Wunsch. Wie soll man sich auch etwas wünschen, wenn alles im Voraus erfüllt ist? Bis zu seinem fünften oder sechsten Lebensjahr berührte stets der Sauger einer Flasche mit warmer Milch seine Lippen, bevor er die Augen aufschlug. Niemand wagte es, ihn zum Unterricht zu wecken, weil seine Mutter allen verboten hatte, seine Träume zu stören. Seine Amme brachte ihn zur Schule, wo sie mit ihm gemeinsam Lesen lernte. Während seiner Klavierstunden zankten sich die Hausmädchen darum, welche von ihnen mit dem Sandelholzfächer die Luft um ihn erfrischen und seinem Nacken Kühlung zufächeln durfte. Seinen Klavierlehrer gewann er, weil er beim Einspielen mitsang. Je mehr Jahre vergingen, desto mehr Menschen lauschten vor dem Haus den Melodien, die er für den Moment erfand, ohne den geringsten Ehrgeiz, etwas Unsterbliches zu schaffen. Anstrengung langweilte ihn, ebenso wie die Hände, die unaufhörlich Schweißtropfen von seiner Nase wischten. Dennoch traute er sich nicht, eine von all diesen Aufmerksamkeiten zurückzuweisen, weil in seinem Fall das Nehmen Geben war.

      So wuchs mein Vater in der Leichtigkeit, aber auch in der Leere der Schwerelosigkeit auf. Seine Zeit bemaß sich nicht nach Stunden, sondern eher nach der Zahl seiner Züge auf dem chinesischen Schachbrett oder nach der Zahl der Strafen, die seine Mutter über die Dienstmädchen verhängte, wenn sie eine Schale oder einen Besen fallen ließen, während er ruhte, oder nach der Zahl der Liebesbriefe, die ohne Absender in den Briefkasten geworfen wurden.

      Die Früchte des Lê-Văn-An-Imperiums hätten ihm ein müheloses Leben am Rand der Gesellschaft sichern können. Glücklicherweise liebt das Leben Überraschungen und die ständige Veränderung in der Ordnung der Dinge, um allen die Gelegenheit zu geben, seinen Bewegungen zu folgen und in ihm aufzugehen. Mein Vater war kaum zwanzig, als die Agrarreform die Erträge und den Grundbesitz des Lê-Văn-An-Imperiums halbierte. Zum ersten Mal hatten die Bauern die Chance, das Land, das sie beackerten, auch zu besitzen. Parallel zu dieser neuen Politik erlitt mein Großvater einen Herzinfarkt, der ihn selbst halbierte. Ohne diese Erschütterungen hätte mein Vater meine Mutter wohl nie geheiratet.

      Dalat – ĐÀ LẠT – lateinisch: dat aliis laetitiam aliis temperiem

      DIE MÄDCHEN AUS ĐÀ LẠT waren für ihren blassen Teint und ihre rosigen Wangen bekannt. Manche meinen, die frische Luft der Hochebenen lasse sie so strahlen, während andere ihre sanften Bewegungen dem Nebel zuschreiben, der über den Tälern liegt. Meine Mutter war eine Ausnahme von dieser Regel. Sehr schnell und sehr früh fand sie sich damit ab, dass nie ein Junge zu ihr sagen würde: »Du bist mein Frühling«, obwohl ihr Vorname Xuân Frühling bedeutete und sie an einem Ort lebte, der »Stadt im ewigen Frühling« genannt wurde. Meine Mutter hatte nicht die weiche, zarte Haut meiner Großmutter geerbt. Sie trug eher die Khmer-Gene ihres Vaters in sich, wovon ihr grobes Gesicht zeugte, das während der Pubertät außerdem noch von Akne verunstaltet wurde. Um die Blicke der Lästermäuler abzuwehren und deren Lippen zu verschließen, hatte sie beschlossen, eine wilde Frau zu werden, bewaffnet mit einem eisernen Willen und harten, männlichen Worten. Von der ersten Vorschulklasse bis zum letzten Schuljahr war sie immer die Beste. Ohne den Beginn ihres Wirtschaftsstudiums abzuwarten, übernahm sie schon in jungen Jahren die Führung der elterlichen Orchideenfarm, diversifizierte und reorganisierte die Produktion und machte daraus ein Unternehmen mit exponentiellem Wachstum.

      Ihren Vater, einen hohen Beamten, bat sie um die Erlaubnis, die Villa, die sie an Feriengäste vermieteten, mit einigen Verbesserungen auszustatten. Bald hatte sie ihn auch davon überzeugt, weitere Häuser zu kaufen, um die starke Nachfrage zu befriedigen. Viele suchten nach einem Ort, der sie an Europa erinnerte, fern von einem Alltag, den tropische Hitze und die Spannungen zwischen Herrschenden und Beherrschten oft erstickend machten. Es hieß, dass Đà Lạt, wie sein Name verriet, die Macht habe, den einen Freude und anderen Frische zu schenken.

      Meine Mutter war fünfzehn, als mein Vater zum ersten Mal in die Villa in Đà Lạt kam. Er bemerkte sie nicht, denn wenn er vorbeiging, senkte sie den Blick, um sich nicht zu verraten. Während dieses ersten Aufenthalts der Familie des Richters Lê Văn An beobachtete sie ihn nur von fern. Ab dem folgenden Jahr bestand sie darauf, sich an der Zubereitung des Essens zu beteiligen, und überwachte jedes Detail, von den zu feinen Blüten geschnitzten Karotten in den Saucen bis zu den Wassermelonenstücken, deren Kerne einzeln mit einem Zahnstocher entfernt wurden, um das Fruchtfleisch nicht zu verletzen.

      Der Morgenkaffee musste aus den Exkrementen der Zibetkatze zubereitet werden, eine Spezialität, die ihm das Bittere nahm und ihm einen Karamellgeschmack verlieh. Den brachte sie meinem Vater persönlich auf die Terrasse, in der Hoffnung, ihm dabei zusehen zu können, wie er seine ebenholzfarbenen Haare à la Clark Gable mit Brillantine frisierte. Es verschlug ihr jedes Mal den Atem, wenn er den Kamm umdrehte und mithilfe seines spitzen Stiels eine kleine s-förmige Locke modellierte und in die Stirn fallen ließ. Doch obwohl sie nur wenige Schritte neben ihm stand, während der Kaffee Tropfen für Tropfen durch den Filter direkt in eines der vier kostbaren Baccarat-Gläser der Familie fiel, war sie für seine Augen unsichtbar. Sie verlängerte die Freude, sich in seiner Gesellschaft zu befinden, indem sie den Deckel des Filters zupresste und so das Durchlaufen des heißen Wassers durch die sehr kompakte Kaffeeschicht verlangsamte. Am Ende hielt sie einen Löffel mit der gewölbten Seite unter den Filter, was das Tropfen versiegen ließ. Wie alle Vietnamesen süßte mein Vater seinen Kaffee mit gezuckerter Kondensmilch, außer dem ersten Schluck, den er am liebsten schwarz trank. Und nach diesem ersten Schluck war es, dass er endlich meine Mutter ansprach.

      BUÔN MÊ THUỘT

      ÜBERRASCHT VON DEM BESONDEREN, samtigen Geschmack des Kaffees, schaute er meine Mutter an. Sie verriet ihm das Geheimnis, indem sie ihm eine unförmige kleine Kugel mit Kaffeebohnen darin zeigte, wie sie in der Gegend der Plantagen von Buôn Mê Thuột gesammelt werden. Diese Kugeln sind der Kot der wilden Zibetkatzen, die reife Kaffeekirschen fressen und die Bohnen nach der Verdauung vollständig ausscheiden. Da die Kulis kein Recht auf die Früchte hatten, die sie auf Rechnung der Grundbesitzer pflückten, nutzten sie die Bohnen aus diesen Exkrementen, die sich als köstlicher und vor allem seltener als die normal geernteten erwiesen. Mein Vater verfiel diesem Kaffee sofort. Meine Mutter diente sich ihm freiwillig als Lieferantin an und erläuterte ihm detailliert die während der Röstung sparsam hinzugefügten Aromen, darunter kostbare, aus Frankreich importierte Butter. Alle zwei Wochen packte sie gewissenhaft ein Säckchen voll Kaffee, das sie oder ein Angestellter meinem Vater zu seinen Händen übergab. Diese Gewohnheit behielt sie auch in der Regenzeit bei, während der Demonstrationen in den Straßen Saigons, nach der Ankunft der Sowjets im Norden und dem Einmarsch amerikanischer Soldaten im Süden.

      Wenn die Familie Lê Văn An nach Đà Lạt kam, kümmerte sich meine Mutter weiter um die Bedürfnisse meines Vaters, vom Kaffee morgens bis zum Moskitonetz, das man zwischen Bett und Matratze stecken musste. Nach dem Herzinfarkt meines Großvaters väterlicherseits luden die Eltern meiner Mutter ihn ein, öfter mit seiner Familie zu kommen, denn die Luft in Đà Lạt war für ihre wohltuende Wirkung bekannt. Nach und nach wurde eine der Villen zum Wohnsitz der Familie