Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Jesmyn Ward

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Название Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt
Автор произведения Jesmyn Ward
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956142284



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um an so ’nem Ort nach oben zu kommen, weil sie sich wichtiger fühlen, wenn sie beachtet werden. Die fühl’n sich nur wie echte Männer, wenn sie bei andern Angst sehn.

      Als ich zuerst nach Parchman kam, hab ich auf den Feldern gearbeitet, hab gepflanzt und Unkraut gejätet und die Ernte eingebracht. Parchman war sofort als Arbeitsfarm zu erkennen. Du siehst die weiten Felder, auf denen wir gearbeitet haben, siehst, dass man durch den Stacheldraht durchgucken kann, dass man ihn greifen, mit dem Fuß Halt finden, sich mit einer blutenden Hand daran festhalten kann, siehst, dass sie die Bäume zurückschneiden und niedrig halten, sodass das Land bis ans Ende der Welt frei und offen daliegt, und du denkst, Hier kann ich rauskommen, wenn ich es mir nur fest genug vornehme. Ich kann den Sternen nach Süden folgen und den Weg nach Hause finden. Aber du denkst das nur, weil du die Trusty Shooters nicht siehst. Weil du den Sergeant nicht kennst. Nicht weißt, dass der Sergeant aus einer langen Reihe von Männern stammt, die darauf getrimmt wurden, dich wie ein Arbeitspferd zu behandeln, wie einen Jagdhund – und darauf getrimmt zu glauben, er könnte dich dazu bringen, es sogar noch zu mögen. Dass der Sergeant in einer langen Tradition von Aufsehern steht. Du weißt nicht, dass die Trusty Shooters wegen viel schlimmerer Sachen nach Parchman geschickt wurden, als wegen einer Schlägerei in einem Juke Joint. Weißt nicht, dass die Trusty Shooters, die Insassen-Aufseher, dort sind, weil sie Spaß am Töten haben und weil sie auf alle möglichen fiesen Arten gemordet haben, nicht nur andere Männer, sondern auch Frauen und –

       Ich und Stag kamen in verschiedene Camps. Stag wurde wegen Körperverletzung verurteilt, ich wegen Beihilfe zur Flucht. Ich hatte auch vorher schon gearbeitet, aber noch nie so hart. Noch nie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf einem Baumwollfeld. Noch nie bei solcher Hitze. Da oben ist sie anders. Die Hitze. Da gibt’s kein Wasser, das im Wind mitfliegt und einen kühlt, deswegen steht dort die Hitze wie im Backofen. Wie in einem feuchten Backofen. Schon bald wurden meine Hände dick, und meine Füße waren ganz verkrustet und blutig, und ich kapierte, wenn ich da draußen auf den Feldern bei der Arbeit war, dann musste ich es schaffen, nicht daran zu denken. Ich durfte nicht an Papa oder Stag oder den Sergeant oder die Trusty Shooters oder die Hunde denken, die am Rand der Felder bellend und mit triefenden Lefzen rumrannten und davon träumten, ihre Zähne in eine Ferse oder einen Nacken zu schlagen. Ich vergaß das alles, ich bückte mich und kam hoch und bückte mich und kam hoch und dachte nur noch an meine Mutter. An ihren langen Hals, ihre ruhigen Hände, ihr Haar, das sie immer nach vorne geflochten hat, um ihren schiefen Haaransatz zu verbergen. Die Gedanken an sie waren wie die Glut eines erloschenen Feuers in einer kalten Nacht: warm und behaglich. Nur so konnte ich meinen Geist von mir selbst losmachen, ihn dort auf diesen Feldern hoch in die Luft fliegen lassen wie einen Drachen. Das musste sein, sonst wär ich im Laufe meiner fünf Jahre in Gefangenschaft irgendwann einfach auf die schmutzige Erde gesunken und gestorben.

       Richie hatte nicht annähernd die Zeit. Es ist schwer genug für einen Mann von fünfzehn, aber für einen Jungen? Einen zwölfjährigen Jungen? Richie kam gut einen Monat nach mir dort an. Er marschierte weinend in das Camp, aber er weinte lautlos, ohne zu schluchzen. Die Tränen liefen einfach über sein Gesicht und machten es nass. Er hatte einen großen Kopf, der wie eine Zwiebel geformt war und für seinen Körper viel zu groß aussah: ein Körper, der nur aus Haut und Knochen bestand. Seine Ohren standen gerade vom Kopf ab, wie Blätter von einem Ast, und seine Augen waren sehr groß für sein Gesicht. Er blinzelte nicht. Er war schnell: ging schnell, ohne zu schlurfen, nicht so wie die meisten, wenn sie im Camp ankamen, sondern er hob die Füße, zog die Knie hoch, wie ein Pferd. Sie banden seine Hände los und brachten ihn in die Baracke, zu seiner Pritsche, und er legte sich im Dunkeln neben mich, und ich wusste, dass er immer noch weinte, weil seine schmalen Schultern zwar eingeklappt waren, aber noch bebten, wie die Flügel eines Vogels, der gerade gelandet ist; doch er gab immer noch keinen Laut von sich. Wenn die Nachtwachen vor den Barackentüren eine Pause machen, dann kann einem zwölfjährigen Jungen im Dunkeln alles Mögliche zustoßen, wenn er eine Heulsuse ist.

       Als er im Dunkel des nächsten Morgens aufwachte, war sein Gesicht getrocknet. Er folgte mir zu den Latrinen und zum Frühstück und setzte sich neben mich auf die Erde.

       »Ganz schön jung für einen Ort wie diesen. Wie alt biste? Acht?«, fragte ich ihn.

       Er sah gekränkt aus. Runzelte die Stirn und sperrte den Mund auf.

       »Wie könn’ Biscuits so eklig schmecken?«, fragte er und verbarg seinen Mund hinter seiner Hand. Ich dachte, er würde das Brot ausspucken, aber er schluckte und sagte: »Ich bin zwölf.«

       »Immer noch reichlich jung, um hier zu sein.«

       »Ich hab geklaut.« Er zuckte die Achseln. »Ich war gut. Ich klau schon, seit ich acht bin. Hab neun kleine Geschwister, die ständig nach Essen schrei’n. Und weinen, weil sie krank sind. Ihr Rücken tut weh, sagen sie, und ihr Mund ist ganz wund. Überall ham sie Ausschlag, an Händen und Füßen. Im Gesicht so dick, dass man kaum noch die Haut sieht.«

       Ich kannte die Krankheit, von der er sprach. Wir nannten sie »rotes Feuer«. Hab mal gehört, wie ein Doktor gesagt hat, die meisten, die das haben, sind arm und essen nur Fleisch, Mehl und Rübensirup. Ich hätte ihm sagen können, dass sie noch gut dran waren, wenn sie so aßen: Im Delta hab ich von Leuten gehört, die sich Lehmplätzchen gebraten haben. Er war stolz auf sich, als er mir erzählte, was er getan hatte, trotzdem er erwischt wurde; ich merkte das an der Art, wie er sich vorbeugte, wie er mich ansah, als er ausgeredet hatte, so als wollte er ein Lob von mir hören. Da wusste ich, dass ich ihn nicht mehr loswerden würde, vor allem, weil er mir überall hin folgte und auf der Pritsche neben mir schlief. Weil er mich so ansah, als könnte ich ihm was geben, was ihm sonst keiner geben konnte. Die Sonne kam zwischen den Bäumen hoch, brachte den Himmel zum Leuchten wie ein frisch entfachtes Feuer, und ich spürte sie schon in den Schultern, im Rücken, in den Armen. Ich biss auf etwas, das im Brot eingebacken war und knirschte. Schnell runterschlucken – lieber nicht drüber nachdenken.

       »Wie heißt du, Junge?«

       »Richard. Aber alle nenn’n mich Richie. Als Witz.« Er schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und lächelte ein bisschen, so vage, dass sein Mund nur ganz leicht aufging und seine weißen, schiefen Zähne kurz zu sehen waren. Ich verstand den Witz nicht, deshalb ließ er den Kopf wieder sinken und erklärte ihn mir mit seinem Löffel. »Weil ich geklaut hab. Also bin ich reich?«

       Ich schaute auf meine Hände hinab. Kein Krümel mehr drin, und trotzdem hatte ich das Gefühl, noch nicht gegessen zu haben.

       »Soll ein Witz sein«, sagte er. Also gab ich Richie das, worauf er aus gewesen war. Er war ja noch ein Kind. Ich lachte.

      Manchmal glaube ich, dass ich alles andere besser verstehe, als ich je Leonie verstehen werde. Sie steht vor der Haustür, kaum zu sehen hinter den Papiertüten mit den Einkäufen, hakt das Fliegengitter auf, stößt mit dem Fuß dagegen und zwängt sich dann mühsam durch die Tür. Als die Tür zuschlägt, flitzt Kayla auf mich zu; sie greift nach ihrem Saftbecher und saugt daran, ehe sie anfängt, mein Ohr zu kneten. Das rollende Kneifen ihrer kleinen Finger tut ein bisschen weh, aber es ist eine Angewohnheit von ihr, daher hebe ich sie hoch, nehme sie auf den Arm und lasse sie kneten. Mam sagt, sie macht das, um sich zu beruhigen, weil sie nicht gestillt wurde. Arme Kayla, hat Mam immer seufzend gesagt. Leonie war sauer, als Mam und Pop auch anfingen, sie Kayla zu nennen, so wie ich. Sie hat einen Namen, sagte Leonie, und zwar den Namen ihres Daddys. Sie sieht aus wie eine Kayla, sagte Mam, aber Leonie nannte sie nie so.

      »Hey, Michaela, Süße«, sagt Leonie.

      Erst als ich in der Küchentür stehe und zugucke, wie Leonie eine kleine weiße Schachtel aus einer ihrer Einkaufstüten zieht, kapiere ich, dass dies das erste Jahr ist, in dem Mam mir keinen Kuchen zum Geburtstag backen wird, und ich kriege ein schlechtes Gewissen, weil es mir erst so spät am Tag klar geworden ist. Pop wird das Essen kochen, aber ich hätte wissen sollen, dass Mam nicht backen kann. Sie ist zu krank von dem Krebs, der gekommen und wieder gegangen und dann wiedergekommen ist, genauso unaufhaltsam wie das Sumpfwasser in