Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Jesmyn Ward

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Название Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt
Автор произведения Jesmyn Ward
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956142284



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wird, und räuspert sich. Ich lege die Ellbogen auf den Tisch und höre zu:

       Ich und Stag, wir haben den gleichen Papa. Meine anderen Geschwister haben andere Daddys, weil mein Papa jung gestorben ist. Glaub, er war so Anfang vierzig. Ich weiß nich genau wie alt, weil er selbst nich wusste, wie alt er war. Er meinte, seine Maman und sein Daddy sind den Behörden immer aus dem Weg gegangen, ham ihre Fragen nie richtig beantwortet, die Zahl ihrer Kinder falsch angegeben, die Geburten gar nich beim Amt gemeldet. Sie glaubten, die wollten nur bei ihnen rumschnüffeln und sich die Informationen besorgen, um sie unter Kontrolle zu kriegen, um sie einzusperren wie Vieh. Deswegen haben sie das ganze offizielle Zeugs nich mitgemacht, sondern lieber nach den alten Sitten gelebt. Papa hat uns einiges davon beigebracht, bevor er starb: Jagen und Spurensuchen, wie man Tiere hält, ein paar Sachen über Ausgewogenheit und über das Leben. Ich hab gut zugehört. Ich hab immer gut zugehört. Aber Stag hat nie zugehört. Selbst als er noch klein war, rannte Stag nur mit den Hunden rum oder ging zum Badeloch, war viel zu beschäftigt mit sowas, um sich mal hinzusetzen und zuzuhören. Und als er älter wurde, hing er ständig im Juke Joint rum. Papa meinte, er sähe zu gut aus, er würde er sich schnell Ärger einhandeln, weil er so hübsch wie ein Mädchen auf die Welt gekommen war. Weil die Leute hübsche Sachen mögen und ihm alles zu leicht gemacht wurde. Maman machte Schschscht, wenn Papa das sagte, sie meinte, Stag würde nur zu viel fühlen, weiter nichts. Meinte, deswegen fiel es ihm schwer, stillzusitzen und nachzudenken. Ich hab nix gesagt, aber ich fand, sie hatten beide nich recht. Ich glaub, Stag fühlte sich innen drin tot, deswegen konnte er nich stillsitzen und zuhören, deswegen musste er immer auf den höchsten Felsen klettern und kopfüber ins Wasser springen, wenn wir am Fluss baden waren. Deswegen ging Stag, sobald er achtzehn oder neunzehn war, fast jedes verfluchte Wochenende in den Juke Joint und trank, deswegen lief er mit einem Messer in jedem Schuh rum, und noch einem in jedem Ärmel, deswegen verletzte er Leute und kam selbst oft mit Schnittwunden nach Hause – er brauchte das, um sich lebendiger zu fühlen. Und er hätte ewig so weitermachen können, wenn nicht dieser Kerl von der Navy da aufgekreuzt wäre, mit noch ein paar andern Weißen Männern aus dem Norden, die auf Ship Island stationiert waren. Wollte sich wohl’n bisschen mit den Farbigen amüsieren, doch dann traf er an der Theke auf Stag, ein Wort gab das andere, und schließlich zog der Mann Stag eine Flasche über den Schädel, und da hat Stag zugestochen, nich tief genug, um ihn zu töten, aber tief genug, um ihm wehzutun, damit Stag Zeit gewinnen und weglaufen konnte, aber weit is er nich gekommen, weil die Freunde des Weißen sich Stag griffen und ihn zusammenschlugen. Ich war allein zu Haus, als Stag ankam, Maman war ein paar Häuser weiter und kümmerte sich um ihre Schwester, und Papa war draußen auf dem Feld. Als die Weißen Männer Stag holen kamen, fesselten sie uns beide und nahmen uns mit. Ihr zwei werdet jetzt lernen, was Arbeit bedeutet, sagten sie. Was es heißt, nach den Gesetzen von Gott und den Menschen zu leben, sagten sie. Euch Bengel schicken wir nach Parchman.

      Ich war fünfzehn. Aber ich war noch nicht mal der Jüngste dort, sagt Pop. Das war Richie.

      Kayla wacht plötzlich auf, rollt sich auf den Bauch, stemmt sich hoch und lächelt. Ihr Haar steht wild ab und ist so zerzaust wie die Lianen an den Ästen der Kiefern. Ihre Augen sind grün wie Michaels, und ihre Haarfarbe schwankt irgendwo zwischen Leonies und Michaels, mit einer Spur von Strohblond.

      »Jojo?«, sagt sie. Das sagt sie immer, sogar wenn Leonie im Bett neben ihr liegt. Darum kann ich jetzt nicht mehr auf dem Zweisitzer bei Pop im Wohnzimmer schlafen; Kayla hat sich als kleines Baby so dran gewöhnt, dass ich ihr nachts das Fläschchen bringe. Darum schlaf ich neben Leonies Bett auf dem Fußboden, und in den meisten Nächten kommt Kayla irgendwann zu mir runter, weil Leonie meistens weg ist. Kayla hat was Klebriges am Mundwinkel. Ich spucke auf den Saum von meinem T-Shirt und reibe damit über ihre Wange, und sie schüttelt meine Hand ab und krabbelt auf meinen Schoß: Sie ist klein für ihre drei Jahre, und wenn sie sich an mich kuschelt, hängen ihre Füße nicht mal über meine Oberschenkel. Sie riecht nach in der Sonne getrocknetem Heu, warmer Milch und Babypuder.

      »Durst?«, frage ich.

      »Mhm«, macht sie leise.

      Als sie ausgetrunken hat, lässt Kayla ihre Schnabeltasse auf den Boden fallen.

      »Singen«, sagt sie.

      »Was soll ich denn singen?«, frage ich, obwohl sie mir das nie sagt. Genau wie ich mir zu gerne Pops Geschichten anhöre, hört Kayla mir zu gerne beim Singen zu. »›Die Räder am Bus‹?«, schlage ich vor. Das kenne ich aus dem Head-Start-Programm in der Vorschule: Manchmal sind die Nonnen aus dem Ort zu uns in die Klasse gekommen, mit ihren akustischen Gitarren, die sie wie Jagdgewehre geschultert hatten, und haben uns was vorgespielt. Ich singe das Lied leise, damit Mam nicht aufwacht, und meine Stimme ist holprig und krächzend, aber Kayla schwenkt trotzdem die Arme und marschiert im Zimmer herum. Als Pop den Kochtopf sich selbst überlässt und ins Wohnzimmer kommt, bin ich außer Puste, und meine Arme tun weh. Ich singe gerade »Funkel, funkel, kleiner Stern«, auch ein Hit aus der Vorschule, werfe Kayla dabei in die Luft, fast bis an die hohe Decke, und fange sie wieder auf. Wenn sie ein Kreischkind wäre, würde ich das nicht machen, denn dann würde Mam garantiert aufwachen. Aber während sich jetzt der Duft von in Butter gedünsteten Zwiebeln und Knoblauch, Paprikaschoten und Sellerie im Zimmer ausbreitet, fliegt Kayla mit glänzenden Augen hoch und fällt wieder runter, die Arme ausgebreitet, den Mund zu einem breiten Lächeln verzogen, sodass es so aussieht, als würde sie aus vollem Hals schreien.

      »Noch mal«, keucht sie. »Noch mal«, sagt sie jedes Mal ächzend, wenn ich sie auffange, um sie erneut hochzuwerfen.

      Pop schüttelt den Kopf, aber ich mache weiter, denn ich sehe an der Art, wie er seine Hände am Geschirrtuch abtrocknet und sich an den hölzernen Türbogen lehnt, den er eigenhändig geschliffen und vernagelt hat, dass er nichts dagegen hat. Er hat die Decke absichtlich so hoch gebaut, gut dreieinhalb Meter, weil Mam ihn darum gebeten hatte. Sie meinte, je mehr Platz zwischen Fußboden und Dach ist, desto kühler ist es im Haus. Er weiß, dass ich Kayla nicht wehtun werde.

      »Pop«, sage ich schnaufend, als Kayla mehr auf meiner Brust als in meinen Armen landet. »Erzählst du mir den Rest, bevor du das Fleisch zum Räuchern rausbringst?«

      »Das Baby«, sagt Pop.

      Ich fange Kayla auf und drehe mich einmal mit ihr im Kreis. Sie schmollt, als ich sie absetze und ein Spielset von Fisher-Price, das früher mir gehört hat, unter dem Sofa hervorziehe. Ich puste den Staub ab und schiebe es ihr hin. Zum Set gehörten eine Ziege und zwei Hühner, und eine der roten Scheunentüren ist kaputt, aber trotzdem geht Kayla in die Hocke und legt sich dann auf den Bauch, um die Plastiktiere hüpfen zu lassen.

      »Guck, Jojo!«, sagt Kayla und lässt die Ziege auf und ab springen. »Baa baa«, sagt sie.

      »Macht doch nichts«, sage ich. »Sie hört uns gar nich zu.«

      Pop setzt sich hinter Kayla auf den Fußboden und lässt die noch heile Scheunentür auf und zu schnappen.

      »Die ist ganz klebrig«, sagt er. Dann schaut er nach oben an die raue Decke und bringt seufzend einen Satz hervor, und dann noch einen. Er erzählt mir die Geschichte noch einmal.

       Richie, so wurde er genannt. Sein richtiger Name war Richard, und er war gerade mal zwölf Jahre alt. Hatte drei Jahre gekriegt, weil er Essen geklaut hatte: Salzfleisch. Ne Menge Leute waren dort, weil sie Essen geklaut hatten, denn viele waren arm und hungerten, und auch wenn die Weißen unsere Arbeitskraft nicht mehr umsonst kriegten, taten sie alles, um uns nicht einstellen und bezahlen zu müssen. Richie war der kleinste Junge, den ich je in Parchman gesehen habe. Auf der riesigen Farm waren ungefähr zweitausend Männer, verteilt auf mehrere Arbeitscamps. Fast fünfzigtausend Morgen Land, verdammt. Parchman is’ ein Ort, wo einem am Anfang vorgegaukelt wird, dass es gar kein Gefängnis ist, du denkst, wird schon nicht so schlimm werden, weil’s ja keine Mauern gibt. Damals warn es bloß fünfzehn Camps, jedes davon mit Stacheldraht eingezäunt. Keine Ziegel, keine Steinmauern. Wir Insassen wurden Gunmen genannt, weil wir unter Aufsicht der Trusty Shooters, der Vertrauensschützen, arbeiteten, die selbst Insassen waren, die aber vom Direktor Gewehre kriegten, um den Rest von uns zu beaufsichtigen. Diese Trusty Shooters waren die Sorte Männer, die immer als Erste den Mund aufmachen, wenn sie in