Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Jesmyn Ward

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Название Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt
Автор произведения Jesmyn Ward
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956142284



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meint Misty. Unsere Männer sind im gleichen Gefängnis, daher fahren wir alle vier Monate zusammen hoch. Ich hatte gar nicht dran gedacht, sie zu fragen.

      »Ich hab sie nicht gefragt.«

      Hier auf dem Land aufzuwachsen, hat mich einiges gelehrt. Zum Beispiel, dass nach dem ersten großen Überschwang des Lebens die Zeit an allem nagt: Sie lässt Maschinen rosten, Tiere so altern, dass sie Fell und Federn verlieren, sie lässt Pflanzen welken. Etwa einmal im Jahr sehe ich es auch bei Pop, sehe, wie er mit den Jahren immer schlanker wird, wie die Sehnen hervortreten und mit jedem Jahr fester und steifer werden. Wie seine indianischen Wangenknochen deutlicher hervortreten. Aber seit Mama krank ist, habe ich gelernt, dass Schmerzen das auch bewirken können. Sie können einen Menschen auffressen, bis er nur noch Haut und Knochen ist, mit einer Maserung aus Blut. Können einem die Eingeweide wegzehren und einen an den falschen Stellen anschwellen lassen: Mamas Füße unter der Decke sehen aus wie Ballons, die zum Bersten voll mit Wasser sind.

      »Solltest du tun.«

      Ich glaube, Mama versucht, sich auf die Seite zu drehen, ich sehe, wie sie sich anstrengt, aber dann rollt einfach nur ihr Kopf zur Seite, und sie schaut die Wand an.

      »Mach den Ventilator an«, sagt sie, also rücke ich Pops Stuhl weg und schalte den Kastenventilator ein, der im Fenster klemmt. Die Luft bläst heulend durchs Zimmer, und Mama dreht das Gesicht wieder mir zu.

      »Du fragst dich bestimmt…«, sagt sie und hält inne. Ihre Lippen sind dünn. Daran erkenne ich es am deutlichsten. An ihren Lippen, die immer voll und weich waren, vor allem, als ich noch ein kleines Mädchen war und sie mich auf die Schläfe geküsst hat. Oder auf den Ellbogen. Die Hand. Manchmal, nach dem Baden, sogar auf die Zehen. Jetzt sind diese Lippen in dem eingesunkenen Areal ihres Gesichts nur noch farblich abweichende Hautstellen.

      »… warum ich nicht schimpfe.«

      »Ein bisschen«, sage ich. Sie schaut auf ihre Zehen.

      »Pop is stur. Du bist stur.«

      Ihr Atem geht stotternd, und mir wird klar, dass es ein Lachen ist. Ein mattes Lachen.

      »Ihr regt euch immer auf«, sagt sie.

      Sie schließt wieder die Augen. Ihr Haar ist so schütter, dass ich ihre Kopfhaut sehen kann: blass, von blauen Adern durchzogen, wellig und furchig, uneben wie eine selbstgetöpferte Schale.

      »Du bist jetzt erwachsen«, sagt sie.

      Ich setze mich hin und verschränke die Arme. Dadurch treten meine Brüste leicht hervor. Ich erinnere mich an den Schrecken mit zehn, als sie anfingen zu wachsen, vorstanden wie kleine Steine. Wie ich diese fleischigen Knoten als Verrat empfand. Als hätte mich jemand angelogen darüber, wie das Leben sein würde. Als hätte Mama mir nie gesagt, dass ich erwachsen werden würde. In ihren Körper hineinwachsen würde. Zu ihr heranwachsen würde.

      »Du liebst, wen du liebst. Du machst, was du willst.«

      Mama schaut mich an, und nur ihre Augen sehen in dem Moment voll aus, so rund wie immer, wenn ich mich nah genug zu ihr beuge, beinahe nussbraun, und in den Augenwinkeln sammelt sich Wasser. Das Einzige, was die Zeit nicht aufgefressen hat.

      »Du wirst fahren«, sagt sie.

      Jetzt weiß ich es. Weiß, dass meine Mutter Given folgen wird, dem Sohn, der zu spät gekommen und zu früh gegangen ist. Ich weiß, dass meine Mutter im Sterben liegt.

      Given spielte in seinem letzten Schuljahr, im Herbst vor seinem Tod, leidenschaftlich und zielstrebig Football. Jedes Wochenende kamen Scouts von regionalen und staatlichen Colleges, um ihn spielen zu sehen. Er war groß und muskulös, und sobald er das Leder in der Hand hatte, flogen seine Füße nur so über den Boden. Obwohl er es mit dem Football sehr ernst meinte, war er, wenn er nicht auf dem Platz war, äußerst gesellig. Er hat zu Pop mal gesagt, seine Teamkameraden, Schwarze und Weiße, wären wie Brüder für ihn. Dass es ihm so vorkam, als zöge die Mannschaft jeden Freitagabend in den Krieg, als würden sie gemeinsam zu etwas Neuem werden, etwas, das größer war als sie selbst. Pop schaute auf seine Schuhe und spuckte ein braunes Rinnsal in den Sand. Given sagte, er wollte mit seinen weißen Teamkameraden hoch zum Kill fahren, zu einer Party, und Pop riet ihm davon ab: Sie schaun dich an und sehn das Fremde, Junge. Spielt keine Rolle, was du siehst. Kommt nur drauf an, was sie tun, hatte Pop gesagt und dann den ganzen Priem ausgespuckt. Given hatte mit den Augen gerollt, sich an die Kühlerhaube des 77er Nova gelehnt, den sie gerade für ihn reparierten, und gesagt: Okay, Pop. Zu mir hochgeschaut und mir zugezwinkert. Ich war nur froh, dass Pop mich nicht reingeschickt hatte, froh, dass ich ihnen Werkzeuge reichen und Wasser holen und beim Arbeiten zusehen durfte, denn ich wollte auf keinen Fall ins Haus gehen, weil ich fürchtete, Mama könnte mir mal wieder eine ihrer Lektionen in Pflanzenkunde erteilen wollen. Kräuter und Arzneien, hatte sie zu mir gesagt, als ich sieben wurde, das kann ich dir beibringen. Ich hoffte, irgendjemand, Big Henry oder einer der Zwillinge, würde vorbeikommen, von der Straße oder aus dem Wald auftauchen, damit noch jemand da wäre, mit dem wir reden konnten.

      Given hörte nicht auf Pop. Ende des Winters, im Februar, beschloss er, mit den Weißen Jungs oben im Kill jagen zu gehen. Er sparte Geld und kaufte sich einen schicken Bogen. Er hatte mit Michaels Cousin gewettet, dass er mit Pfeil und Bogen schneller einen Bock erlegen könnte, als der mit einem Gewehr. Michaels Cousin war ein kleiner Typ mit einem schielenden Auge, der Cowboystiefel und Bier-T-Shirts wie eine Uniform trug; er war der Typ, der mit Highschool-Kids rumhing und mit Schülerinnen ausging, obwohl er schon Anfang dreißig war. Given trainierte mit Pop. Übte stundenlang hinten auf dem Grundstück schießen, obwohl er lieber Hausaufgaben hätte machen sollen. Fing an, genauso aufrecht wie Pop zu gehen, jede Faser in ihm so straff gespannt wie sein Bogen, bis er schließlich mit dem Pfeil genau in die Mitte der zwischen zwei Kiefern gespannten Leinwand traf, die fünfzig Meter entfernt war. Er gewann seine Wette in der Morgendämmerung eines kalten, bedeckten Wintertages, teils weil er richtig gut war, teils weil alle anderen, die ganzen Jungs, mit denen er Football spielte, in der Umkleide raufte und auf dem Spielfeld bis zum Umfallen gemeinsam schwitzte, an diesem Morgen schon zum Frühstück statt Orangensaft Bier getrunken hatten, weil sie glaubten, Given würde verlieren.

      Damals kannte ich Michael noch nicht; ich hatte ihn ein paar Mal in der Schule gesehen, mit seinen dicken blonden Locken, die fast schon verfilzt aussahen, weil er sie nie kämmte. Seine Ellbogen, Hände und Füße waren aschfahl. Michael ging an dem Morgen nicht mit zum Jagen, weil er keine Lust hatte, so früh aufzustehen, aber er hörte davon, als sein Onkel mitten am Tag zu Big Joseph kam, während der Cousin langsam wieder nüchtern wurde und ein Gesicht machte, als habe er etwas Faules gerochen, eine vergiftete Ratte, die die Winterkälte ins Haus getrieben hatte, und der Onkel sagte: Er hat den Nigger erschossen. Dieser verdammte Blödmann hat den Nigger erschossen, weil er ihn besiegt hat. Und dann, weil Big Joseph jahrelang Sheriff gewesen war: Was machen wir jetzt? Michaels Mama sagte, sie sollten die Polizei rufen. Big Joseph beachtete sie gar nicht, und sie fuhren alle zusammen zurück in den Wald, liefen eine Stunde lang tief hinein und fanden Given, der ausgestreckt und reglos auf den Kiefernnadeln lag, in einer Pfütze aus dunklem Blut. Um ihn herum überall Bierdosen, die die Jungs hastig weggeworfen hatten, als sie abgehauen waren, nachdem der Cousin mit dem Schielauge gezielt und abgedrückt und der Schuss die Stille zerrissen hatte. Sie waren in alle Richtungen geflohen, wie die Kakerlaken vor dem Licht. Der Onkel hatte seinem Sohn eine runtergehauen, und dann noch eine. Du verdammter Idiot, hatte er gesagt. Es ist nicht mehr so wie früher. Und der Cousin hatte die Hände gehoben und gemurmelt: Er hätte verlieren sollen, Pa. Hundert Meter weiter lag der Bock auf der Seite, einen Pfeil im Hals, einen zweiten in der Flanke, genauso kalt und steif wie mein Bruder. Ihr Blut schon fast geronnen.

      Jagdunfall, sagte Big Joseph, als sie wieder zu Hause waren und am Tisch saßen, das Telefon in der Hand, ehe der Vater des Cousins, genauso klein wie sein Sohn, aber mit synchronen Augen, die Polizei anrief. Jagdunfall, sagte der Onkel am Telefon, während das Licht der kühlen Mittagssonne durch die Vorhänge schnitt. Jagdunfall, sagte der schieläugige Cousin vor Gericht, das gute Auge auf Big Joseph gerichtet, der hinter dem Anwalt des Jungen saß, mit einer Miene so reglos und hart wie ein Porzellanteller. Aber