Borgo Sud. Donatella Di Pietrantonio

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Название Borgo Sud
Автор произведения Donatella Di Pietrantonio
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956144714



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Frühstück da. Er hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, tunkte sie einzeln in die Tasse und erzählte mir seinen Tag.

      Das Haus, in dem wir als Ehepaar lebten, ist nicht weit von hier. Im Geist gehe ich die Querstraßen durch, die diese Straße von der Via Zara trennen. Die Wohnung von damals hat sich mir so tief eingeprägt, dass ich noch heute jede Einzelheit aufzählen könnte: die gesprungene Bodenfliese im Badezimmer, die einen dumpfen Ton von sich gab, wenn man darauf trat, die Lichtspiele an den Wänden im Lauf des Tages. Als Erstes weckte uns immer ein Knacken am Fenster, wenn die Sonne es erwärmte, eine plötzliche Ausdehnung des Glases. Piero begann sich hin- und herzuwälzen und protestierte dagegen, dass wir aufstehen mussten. Wir atmeten eine stets leicht blaue Luft, die von der Terrasse über dem Meer hereinkam. Das Meer verdampfte in unserer Wohnung.

      Jetzt riecht man das Salzwasser nicht, und von draußen dringt kaum das Geräusch der Wellen herein.

      Auch in jener Nacht konnte ich nicht schlafen in meinem zu breiten Bett. Es war unser dritter Sommer dort, die Möbel rochen nicht mehr neu, und der Herd in der Küche hatte seinen Glanz verloren. Piero wachte bei seinem Vater, der im Krankenhaus lag. Im dunkelsten Augenblick vor dem Morgengrauen klingelte es Sturm. Sie schrie ihren Namen, war wie der Blitz oben auf unserem Stockwerk, ich hörte die nervösen Schritte vor der Tür, den keuchenden Atem. Ich brauchte eine Weile, bis ich den Riegel aufbekam, den ich am Abend vorgeschoben hatte, auf der anderen Seite schimpfte sie auf mich. Ich hatte sie seit über einem Jahr nicht gesehen, meine Schwester.

      Als kleine Mädchen waren wir unzertrennlich, dann lernten wir, uns aus den Augen zu verlieren. Sie brachte es fertig, über Monate nichts von sich hören zu lassen, aber noch nie so lang wie diesmal. Sie schien einem Nomadentrieb zu gehorchen, wenn ein Ort ihr nicht mehr zusagte, verließ sie ihn. Unsere Mutter sagte es ihr ab und zu: Du bist eine Zigeunerin. Auch ich wurde dann so, auf andere Art.

      Sie kam hastig herein, schloss mit einem Tritt nach rückwärts die Tür hinter sich. Dabei fiel einer der Pantoffeln herunter, die sie trug, und blieb verkehrt herum auf dem Boden liegen. Das Baby schlief auf ihrem Arm, die nackten Beinchen reglos an Adrianas magerem Körper, der Kopf unter ihrem Kinn. Es war ihr Kind, und ich wusste nicht, dass sie es zur Welt gebracht hatte.

      Den Umsturz, der gerade begann, konnte ich mir nicht vorstellen; hätte ich ihn geahnt, hätte ich die beiden vielleicht draußen stehen lassen. Adriana hielt sich für einen Engel mit einem Schwert, doch sie war ein schusseliger Engel und verletzte auch unabsichtlich. Wäre sie nicht gekommen, wäre vielleicht alles Übrige nicht geschehen, wer weiß.

      Unsere letzte Begegnung hatte im Streit geendet, nach ein paar Wochen hatte ich nach ihr gesucht, sie aber nicht gefunden. Ich wartete auf ein Zeichen von ihr. Keiner von unseren gemeinsamen Bekannten hatte sie mehr in der Stadt gesehen, doch ab und zu schickte sie Ansichtskarten an unsere Eltern oben im Dorf. Sie zeigten sie mir, wenn ich zu Besuch kam: der Hafen von Pescara, Pescara by night. Viele Grüße von eurer Tochter, dann die flatterige Unterschrift. Sie wusste, dass ich diese Karten lesen würde, sie waren für mich: der Beweis, dass sie lebendig und in der Nähe war.

      Ihr Zeichen kam um drei Uhr früh, an einem Junimorgen. Ich weiß nicht, wie lange ich reglos geschwiegen und sie angesehen hätte. So von hinten glich das Baby einer großen Puppe, einer von denen, die seine Mutter in ihrer Kindheit nie besessen hatte.

      Ich hätte sie fast nicht wiedererkannt, sie trug einen verbeulten Strohhut mit ausgebleichten künstlichen Blumen an der breiten Krempe, der Rand war auf der einen Seite ausgefranst. Aber die Augen darunter waren die ihren, leuchtend und stechend, nur weiter aufgerissen, wie wenn sie Angst hätte.

      Sie fragte mich nach Piero, ich sagte ihr, wo er war. Sofort regte sie sich darüber auf, dass wir beide noch hier im Flur standen, und rannte mich beinahe um. Sie hatte den Schnitt der Wohnung, in der sie nur selten gewesen war, nicht vergessen und lief schnurstracks in unser Schlafzimmer. Sie legte das Kind aufs Bett, deckte es mit dem Laken zu und ließ sich daneben plumpsen. Ich stand vor ihr, und sie sprach nicht, stützte ihr verschwitztes Gesicht in die Hände, die Ellbogen auf den Knien. Zu ihren Füßen der Sack, den sie von der Schulter hatte fallen lassen.

      »Was ist passiert?«, fragte ich vorsichtig.

      Sie antwortete nicht, sondern trat ans Fenster, um die Tränen zu verbergen. Sie zitterte ein wenig, die Schulterblätter zeichneten sich unter dem Nachthemd ab, das ich für ein Sommerkleid gehalten hatte. Sie stieß mit dem Hutrand an die Scheibe, der Hut fiel herunter. Über ihrem rechten Ohr war ihre schulterlange Mähne glatt mit der Schere abgeschnitten, wie bei einem schlecht ausgegangenen Friseurspiel. Sofort bedeckte sie die Verunstaltung wieder, ohne das Staunen auf meinem Gesicht zu beachten. Ein schwaches Rascheln, das Kind schob das Laken weg und drehte sich zu der brennenden Lampe um. Es schlief in der gleichen Stellung wie im Bauch seiner Mutter, mit Pausbacken und feuchten Ponylöckchen auf der Stirn.

      »Wie heißt es?«, fragte ich leise.

      »Vincenzo«, erwiderte Adriana vom Fenster her.

      Ich kniete mich neben das Bett und schnupperte an meinem Neffen. Er roch gut, der Kopf wie noch warmes Brot. Ich wagte es, ihn ganz zart zu streicheln, berührte ihn kaum.

      »Du musst uns eine Weile hierbehalten«, sagte Adriana. Ihr ernster Ton erschreckte mich mehr als ihre Forderung.

      »Ich frage Piero.«

      »Piero ist lieb, er hat bestimmt nichts dagegen. Du willst es vielleicht nicht.« Wieder drehte sie sich um und blickte auf die weißen Lichtkegel der Straßenlaternen draußen.

      Ich ließ sie stehen und setzte in der Küche Wasser auf. Sie wehrte sich gegen die dampfende Tasse Kamillentee, doch dann blies sie darauf, damit er abkühlte, und trank ihn wie eine bittere Medizin, in geräuschvollen Schlucken, auf die eine angeekelte Grimasse folgte.

      Ein kurzes Wimmern des Babys, es spreizte reflexartig die Hände, wachte aber nicht auf.

      »Seid ihr in Gefahr?«, fragte ich Adriana.

      »Hier nicht«, antwortete sie nachdenklich.

      Danach ging sie ins Gästeklo, noch immer halb barfuß, mit nur einem Pantoffel. Ich näherte mich Vincenzo, auf der Suche nach Ähnlichkeiten, doch solange er schlief, war das schwierig, von seiner Mutter schien er nur den ein wenig frechen Mund zu haben. Und die Nasenlinie erinnerte an den anderen Vincenzo, den Onkel, den er nie kennenlernen würde.

      Im Lauf der Zeit wurde er ihm dann immer ähnlicher, im Gesicht, in der Art zu gehen und zu lachen, mit zurückgeworfenem Kopf. Wenn seine Mutter ihn ins Dorf mitnahm, blieben die Passanten auf der Piazza stehen und drehten sich nach ihm um, so ähnlich sah er dem, der nicht mehr da war. Auch die Entschiedenheit ist die gleiche, aber mein Neffe weiß, wie er sie einsetzen muss. Mit sechs Jahren beschäftigte er sich stundenlang mit Legosteinen: Er baute Schiffe, ausgestattet mit allen Details. Jetzt will er Schiffbauingenieur werden.

      »Ich schlag dir den Schädel ein, wenn du nicht lernst«, droht ihm seine Mutter manchmal, aber das ist gar nicht nötig.

      Adriana hat es verstanden, einen Jungen heranzuziehen, der anders ist als unser Bruder und auch anders als sie.

      Damals in der Nacht hat mich der Name des Kindes beeindruckt. Später wurde er mit jeder Wiederholung richtiger. Vincenzo klingt frisch und uralt in allen drei Silben. Adriana hat ihr Baby an eine Geschichte von Unglück und Wundern, Tod und Überleben gebunden: die glanzlose Geschichte unserer Familie. Dieser Vincenzo kommt mir stärker vor als die Widrigkeiten, schon jetzt wette ich auf seine Zukunft.

      3

      Gestern haben sie mich am späten Vormittag aus dem Unterricht ins Sekretariat gerufen. Es war kurz vor dem Ende der Stunde, wir sprachen gerade über Francesco Biamonti. Sein Buch Die Reinheit der Oliven ist einer der Romane, die ich für dieses Semester ausgewählt habe, es fällt meinen Studenten nicht leicht, ihn zu lesen, aber sie haben angebissen. Ich wollte ihr Verständnis des Italienischen und einige Gewissheiten über ihr Land auf die Probe stellen.

      Alain war beeindruckt von dem »unruhigen Schweigen« des Protagonisten und von der Landschaft, den Seealpen, die von der ersten