AktenEinsicht. Christina Clemm

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Название AktenEinsicht
Автор произведения Christina Clemm
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783956143755



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hatten. Tatsächlich aber seien sie nur in den Veranstaltungssaal gelangt, um ihrem Unmut über das Thema Ausdruck zu verleihen und die Veranstaltung zu stören. Die herbeigerufenen Einsatzkräfte hätten deshalb auf Aufforderung des Veranstaltungsleiters den Saal geräumt, wobei es während der Räumung zu tumultartigen Situationen gekommen sei und sich einige der Frauen vollständig der Oberbekleidung entledigt hätten. Die Einsatzlage habe deshalb nur eine Räumung, nicht aber die Festnahme der störenden Personengruppe zugelassen.

      Bereits vor Ort seien einige reguläre Veranstaltungsteilnehmende befragt worden. Mehrere äußerst entrüstete Zeugen und Zeuginnen, zumeist Damen und Herren zwischen 55 und 75 Jahren, wohlsituiert, aus akademischen Kreisen, hatten im Ermittlungsverfahren ausgesagt, dass sie einen Vortrag organisiert hätten. Dort habe ein Jurist, ein Richter am Oberverwaltungsgericht, über Lebensschutz unter rechtlichen und moralischen Gesichtspunkten und dem verfassungsrechtlichen Gebot, das Leben von Anfang an zu schützen, sprechen sollen. Erst habe man sich gefreut, dass viele junge Frauen zu der Veranstaltung gekommen seien, gerade sie ginge es ja etwas an. Denn letztlich seien es die jungen Frauen, die die größte Bedrohung für das Ungeborene darstellten. Aber dann, der Hauptredner habe gerade mit seinem Vortrag beginnen wollen, hätten sie auf das Kommando der Rädelsführerin hin plötzlich herumgeschrien. Sie hätten mit faulen Eiern geworfen, wüst gewütet und letztlich sogar die Exponate mit den Embryonen zerstört. »Mit echten, abgetriebenen, ermordeten Babys!« Sehr schnell sei das gegangen.

      Die Rädelsführerin wurde als blond und langhaarig, circa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, schlank, circa 1,75 Meter groß und sportlich beschrieben. Sie habe ihre Haare lang und offen getragen und habe keinerlei Auffälligkeiten im Gesicht wie Piercings oder Tätowierungen gezeigt.

      Was sie gemeinsam verschwiegen, die Anwältin aber von Claudia S. erfuhr, war, dass viele der protestierenden Frauen auf ihrem Weg hinaus von den Abtreibungsgegnern massiv angegriffen wurden. Viele trugen Hämatome und Kratzwunden davon, eine Frau war gebissen worden und eine mit der Faust in ihren Bauch geschlagen worden. Die zunächst so bürgerlich wirkenden Personen gerieten angesichts des Protestes von jungen Frauen im gebärfähigen Alter in hysterische Wut.

      Die Bewegung der Abtreibungsgegner*innen ist seit Langem aktiv und in Deutschland und weltweit wieder erstarkt. Sie schließen Bündnisse mit extrem konservativen bis rechtsextremen Organisationen im Namen eines angeblichen Lebensschutzes und sprechen den Schwangeren ihr Recht auf Selbstbestimmung ab.16 Abtreibung ist in Deutschland grundsätzlich verboten und nur unter bestimmten Umständen, nämlich innerhalb einer Frist und nach Beratung straffrei. Sie soll, wenn es nach den selbsternannten Lebensschützer*innen geht, wenn überhaupt nur bei Lebensgefahr für Mutter und Embryo erlaubt sein, ansonsten sei das Lebensrecht des Embryos nicht verhandelbar. Häufig vertreten Abtreibungsgegner-Organisationen rassistische, rechtsextreme oder ultrakonservative Ziele, wenn sie etwa formulieren, dass das demografische Problem durch »mehr deutsche Kinder statt durch Masseneinwanderung« zu lösen sei, oder Abtreibungen mit dem Holocaust vergleichen. Sie halten ein traditionelles Familienbild hoch, in dem der Mann der Ernährer und die Frau Mutter und Hausfrau ist, und wettern gegen den von ihnen sogenannten »Genderwahn«.17 Abtreibungsgegner*innen machen Frauenärzt*innen, die Abtreibungen durchführen, das Leben mit Anzeigen und Klagen schwer, versuchen Kliniken, in denen Abtreibungen vorgenommen werden, Gelder streichen zu lassen. Auch der Papst sprach 2018 davon, dass Abtreibungen wie Auftragsmorde seien, und erklärte damit die Ärzt*innen, die Abtreibungen durchführen, indirekt zu Mörder*innen.18

      In Ecuador sind Abtreibungen selbst dann verboten, wenn die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung herrührt, und nur dann erlaubt, wenn das Leben der Schwangeren ernsthaft gefährdet ist, und in Teilen der USA haben die reaktionären Abtreibungsgegner*innen schon ein faktisches Verbot von Abtreibungen durchgesetzt. In Deutschland haben sie erreicht, dass immer weniger Praxen Abtreibungen durchführen und Ärzt*innen schon allein dafür bestraft werden, wenn sie über den Fakt hinaus, dass sie Abtreibungen durchführen, auch informieren, mit welcher Methode.19 Für ungewollt Schwangere wird es immer schwerer, dass ihre eigene Entscheidung akzeptiert wird und sie eine sichere, medizinisch nach den Regeln der Kunst durchgeführte Abtreibung erhalten können. Dabei ist langläufig bekannt, dass das Verbot von Abtreibungen nicht zu weniger, sondern zu gefährlicheren Abtreibungen führt. Nach Schätzungen der WHO sterben jährlich circa 47.000 Frauen weltweit an den Folgen illegaler Abtreibungen.20

      Die Ermittlungsakte enthielt darüber hinaus den Vermerk über die Einsichtnahme in die sogenannte Lichtbildkartei.

      Sofort fiel der Anwältin auf, dass alle Zeug*innen am gleichen Tag zur Lichtbildvorlage zum Landeskriminalamt bestellt worden waren und dort Fotos angesehen hatten. Offensichtlich waren sie in unmittelbarem Anschluss nacheinander befragt worden und hatten jeweils die gleiche Lichtbildvorlage gezeigt bekommen. Ob sie sich zwischen den jeweiligen Befragungen be- oder absprechen konnten beziehungsweise ob dies gezielt verhindert wurde, ging aus der Akte nicht hervor.

      Die Lichtbildvorlage bestand aus drei Blättern mit jeweils acht Fotos von Frauen zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Die Hälfte der abgebildeten Frauen hatte braune oder schwarze Haare. Von den Frauen mit blonden Haaren hatten fünf der Abgebildeten Kurzhaarfrisuren. Es blieben also sieben Frauen mit blonden Haaren, wobei drei Frauen kräftig waren und zwei auffällige Piercings im Gesicht hatten. Es waren also nur zwei Frauen übrig, die auch nur im Entferntesten mit der Beschreibung der Täterin übereinstimmten. Das eine Foto zeigte eine junge Frau, die lächelnd in die Kamera blickte, das andere zeigte Claudia S. Es war bei einer erkennungsdienstlichen Behandlung durch die Polizei aufgenommen worden, nachdem sie acht Monate vorher bei einer Frauendemonstration festgenommen worden war.

      Ohne jeden Zweifel hatten alle Zeug*innen Claudia S. wiedererkannt.

      Die Anwältin versucht daraufhin zunächst vor der Verhandlung, bei Staatsanwaltschaft und Richterin, hervorzuheben, dass die Aussagen der Zeug*innen im Hinblick auf die Wiedererkennung ihrer Mandantin wertlos sind. Die Wiedererkennung durch diese Zeug*innen aufgrund der Lichtbildvorlage war der einzige Beweis der angeblichen Täterinnenschaft von Claudia S. Die Anwältin trägt Staatsanwaltschaft und Richterin schriftlich vor, dass diese Lichtbildvorlage den Verwaltungsvorschriften für Richter*innen und Staatsanwält*innen (RistBV) widerspricht und damit für das Verfahren keinerlei Beweiswert haben kann. Denn die Zeug*innen haben nicht etwa aus mehreren sich ähnlich sehenden Personen eine mögliche Täterin herausgesucht, sondern es kamen überhaupt nur zwei abgebildete Personen in Betracht, und davon war eine so abgebildet, dass bereits das Foto suggerierte, dass es sich um eine Straftäterin handeln musste. Außerdem sei nicht sicher, ob sich die Zeug*innen nicht absprechen konnten. Darüber hinaus schrieb sie, dass die Lichtbildvorlage nicht nur keinen Wert habe, sondern im Gegenteil auch eine spätere Identifizierung durch die Zeug*innen nunmehr insgesamt nicht mehr möglich sei, da sie das Bild von Claudia S. eingehend studiert hatten, diese auch zu einem späteren Zeitpunkt immer wieder identifizieren würden.

      Die Staatsanwaltschaft ging auf das Vorbringen der Anwältin nicht ein, und auch das Gericht ließ die Anklage unverändert zu und eröffnete das Hauptverfahren.

      Aber immerhin hatte die Anwältin einen kleinen Stachel gesetzt, der die Richterin, die das Verfahren führen würde, auf die Wiedererkennung sensibilisierte und die sich deshalb auf eine ungewöhnliche Vorgehensweise, die die Anwältin anregte, einließ.

      Die Strafprozessordnung sieht vor, dass ein Verfahren in den meisten Fällen nur gegen eine anwesende Person durchgeführt werden darf. In der Regel sitzen die Angeklagten neben oder vor ihren Verteidiger*innen, zwingend ist dies aber nicht. Denn die Strafprozessordnung schweigt über die Sitzordnung. Unbestritten ist, dass der Sitzplatz eine große Suggestionswirkung hat. Die meisten Menschen verwerfen mögliche Unsicherheiten des Wiedererkennens, wenn sie eine Person identifizieren sollen, die augenscheinlich die Angeklagte* ist, denn sie gehen davon aus, dass schon die richtige Person auf der Anklagebank sitzt. Wenn eine Person auf der Anklagebank sitzt, die vorher in einer Lichtbildvorlage vorkam, verstärkt sich die Suggestion.

      Am Verhandlungstag ist vor dem Gerichtssaal im dritten Stock ein kleiner Tumult.

      Vor dem Saal stehen fünfzehn Frauen, davon sind acht blond und zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt