Название | AktenEinsicht |
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Автор произведения | Christina Clemm |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956143755 |
Irgendwann verstehen die Verteidiger, dass sie mit dieser Taktik nicht weiterkommen und Claudia S. mit jeder Frage nur noch glaubwürdiger wird. Sie beantragen eine Pause zur Beratung, stellen danach die Strategie um und keine einzige Frage mehr. Jetzt will man sie nicht mehr in Widersprüche verwickeln, sondern ihr zu gutes Aussageverhalten problematisieren. Ihre Vernehmung wird abgeschlossen, und unmittelbar danach gibt einer der Verteidiger eine kurze Stellungnahme ab, wie sie jeder Verfahrensbeteiligte nach jeder Beweisaufnahme abgeben darf, und erklärt:
»Ich bedaure es, dass ich Frau S. so lange befragen musste. Für sie war es sicherlich eine Qual, und es ist nicht schön, sein Privatleben so ausbreiten zu müssen. Wir würden dies am liebsten auch nicht tun. Aber es ist eine Qual, die man auf sich zu nehmen hat, wenn man einem anderen Menschen die noch viel größere Qual beschert, seine Freiheit einzubüßen, in Untersuchungshaft, womöglich sogar in Strafhaft zu sitzen, unschuldig inhaftiert zu sein.
Claudia S. ist eine phantastische Zeugin. Wir wissen, was uns unser Mandant erzählt, und deshalb mussten wir versuchen, Ihnen nahezubringen, wie sie wirklich ist. Aber, das müssen wir hier einräumen, es ist uns kaum gelungen.
Claudia S. ist, ich will das mal so flapsig sagen, anders als der Angeklagte, eine Zeugin von uns, eine, die vielleicht einen Abschluss als Juristin machen könnte oder in Philosophie, in Psychologie. Wir können uns vorstellen, wie sie Hörsäle füllt oder eine Klinik leitet, ihr steht die Welt offen. Sie ist schlau, eloquent, gewandt. Wenn man sie hier sitzen sieht, ihr zuhört, versteht man alles, was sie weshalb getan hat, und man wünscht ihr aus tiefstem Herzen, dass sie wieder auf die Beine kommt, weg von der Prostitution, hin zu dem Leben, das ihr ihre Eltern so gerne bereitet hätten.
Nur eines versteht man nicht: Weshalb sie mit diesem Angeklagten mehr als einen One-Night-Stand hatte. Sie muss es doch nach kürzester Zeit durchschaut haben, was für ein Typ der Angeklagte ist. Sie muss seine Freunde verachtet haben, seinen Lebensstil, seine Ziele und Werte.
Nie würde man glauben, dass sie noch andere, abgründige, hinterhältige Seiten hat.
Unserem Mandanten ging es nicht anders. Er sah sie und verliebte sich unsterblich. Er himmelte sie an, befand sich im siebten Himmel, den wir alle so gern erreichen möchten. Auch alle seine Freunde mochten sie, bewunderten ihn dafür, sich eine solche Frau geangelt zu haben.
Wie ist das möglich?
Weil sie wandelbar ist, weil sie Phantasie hat, und …«
– hier macht der Verteidiger eine Pause –
»‰ Hohes Gericht – es ist nur meine Meinung – und ich weiß, dass sie nicht von Bedeutung ist –, aber ich bin davon überzeugt, dass diese Zeugin so überzeugend ist, weil sie sehr, sehr gut lügen kann.«
Selbstverständlich gibt es auch falsch anzeigende Frauen, die eine Vergewaltigung zu Unrecht behaupten, so wie es falsche Anzeigen wegen Brandstiftung, Diebstahl, Raub oder Beleidigung gibt.
Es gibt aber keinerlei belastbare Zahlen dazu, dass es höhere Falschanzeigezahlen bei sexualisierter Gewalt gibt als bei anderen Delikten. Auch die Mär, dass ein Mann, allein dadurch, dass ihm ein Sexualdelikt vorgeworfen wurde, vor dem beruflichen und sozialen Aus stehe, ist durch zahlreiche prominente Beispiele widerlegt.13
»Weil sie jedem erzählen kann, was gerade ins Konzept passt, und sie intelligent und begabt genug ist, das Geschehen so zu drehen, wie es für sie am besten ist. Das muss man hier beachten. Die Aussagen von einfach strukturierten Menschen zu beurteilen, Hohes Gericht, mit Verlaub, das ist einfach. Aber wenn jemand über so viel Intelligenz und Eloquenz verfügt wie diese Zeugin, dann tun wir uns schwer, lassen uns gern blenden, so wie es vor dem Amtsgericht geschehen ist. Mein Mandant versteht bis heute nicht, weshalb es so gekommen ist, weshalb sie ihn plötzlich verlassen hat und weshalb sie ihn mit diesem falschen hinterhältigen Vorwurf belastet. Vielleicht reichte ihr das Leben mit ihm einfach, vielleicht bevormundete er sie zu sehr, war zu eifersüchtig, zu besitzergreifend. In der Welt meines Mandanten ist Emanzipation nicht gerade großgeschrieben, Frauen haben schön zu sein, nett zu sein, den Mund zu halten. Er trug sie auf Händen. Wollte eine Familie mit ihr gründen. Vielleicht ging es ihr zu schnell, wusste sie schon, dass sie nicht an seiner Seite alt werden wollte.
Vielleicht war es Claudia S. auch einfach leid, sich täglich mit diesem Mann, der ihr intellektuell sagenhaft unterlegen ist, abzugeben. Wahrscheinlich spürte sie, dass ihr das Leben an seiner Seite nicht reichen würde. Aber sie kannte seine Eifersucht, sie wusste, dass sie nicht einfach so gehen könnte. Sie musste etwas gegen ihn in der Hand haben, wenn er sie finden würde. Damit wollte sie ihn erpressen, ihn fertigmachen, wenn er es wagen sollte, sie zurückzuholen. In der Nacht vor ihrem Verschwinden ist der Sex entglitten, es war einverständlich, SM, so wie sie es beide mochten. Aber es ging etwas weiter als sonst, sie hatten beide Drogen konsumiert, dass er sie würgte, gehörte dazu, auch dass er sie schlug. Diesmal aber war es vielleicht mehr als sonst. Unschön, aber nicht strafbar. Claudia S. ergriff die Gelegenheit. Nur so ist es zu erklären, weshalb sie nicht sofort nach der angeblichen Vergewaltigung die Polizei aufgesucht hatte. Das wäre doch der sicherste Weg gewesen. Die Spuren waren frisch. Stattdessen rannte sie zu ihrer unschuldigen Freundin, sammelte Beweise, aber zeigte ihn nicht an. Machte sich aus dem Staub mit dem Pelzmäntelchen und dem Hund, dem Schmuck, dem neuen Handy und Bargeld in einer nicht unbeträchtlichen Höhe. Und schrieb ihm noch die SMS – ›Wenn du mir folgst, zeig ich dich an.‹ Ein schlauer Plan.«
Verteidiger*innen verteidigen nie eine Tat, machen sich nicht mit einer Mandant*in und ihrem Handeln gemein. Sie verteidigen ihre Mandant*innen und sorgen als Teil der Rechtspflege dafür, dass am Ende eines Verfahrens ein rechtsstaatliches Urteil gesprochen wird. Oft wissen sie nicht, ob ihre Mandant*in die vorgeworfene Tat begangen hat, oft wissen sie es, lassen es außer Betracht. Es geht nicht um Wahrheit, nicht um Gerechtigkeit im moralischen Sinn in einem strafrechtlichen Verfahren. Richtig und gerecht ist ein Urteil, wenn es ergeht, nachdem die zur Entscheidung berufenen Richter*innen die gewonnenen Beweise und Argumente zur Kenntnis nehmen und abwägen und unvoreingenommen zu einem rechtsstaatlichen Urteil kommen. Die vorliegenden Beweise eröffnen meist einen weiten Beurteilungsraum für die Richtenden, Aufgabe der Verteidigung ist es, diesen so eng wie möglich zugunsten der Mandantschaft zu gestalten.
Es kommt vor, dass ein Freispruch ergeht, selbst wenn bewiesen ist, dass die angeklagte Person die Täter*in der angeklagten Tat ist, etwa weil die Beweise rechtsstaatswidrig erlangt worden sind oder die Taten unterdessen verjährt sind. Häufig ergehen Freisprüche, weil das Gericht nicht ohne vernünftigen Zweifel von der Schuld der angeklagten Person überzeugt ist und in richtiger Anwendung des Zweifelsgrundsatzes dann freizusprechen hat.
Wenn die anwaltlich gut beratenen Beschuldigten schweigen und anhand der Akteneinsicht die Ermittlungsergebnisse nachvollzogen werden können, entwickelt man gemeinsam mit den Mandant*innen eine Verteidigungsstrategie, die für sie zum besten Ergebnis führen soll. Das kann ein Geständnis sein, auch Reue, auch Wiedergutmachung, das Ziel einer möglichst milden Bestrafung.
Es kann aber auch der Weg sein, für einen Freispruch zu kämpfen und dafür alle Mittel einzusetzen, die der Rechtsstaat erlaubt.
In den seltensten Fällen erklären Mandant*innen ihren Verteidiger*innen sofort, dass sie die vorgeworfene Tat begangen haben, wenn sie sie begangen haben. Erfahrene Verteidiger*innen setzen nicht darauf, lassen es sich und ihren Mandant*innen offen, um möglicherweise auch während einer Beweisaufnahme umzuschwenken und doch noch ein spätes Geständnis ablegen zu können. Das ist schwer, wenn die Verteidiger*in selbst von der Unschuld überzeugt ist und womöglich das Mandat nur unter der Prämisse der Unschuld der Mandant*in übernommen hat.
Verteidiger*innen ermitteln manchmal